SPIEGEL ONLINE, 24.08.2004
Leipziger empfangen Schröder mit Pfiffen und Schreien
Die Begrüßung war alles andere als freundlich. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Leipzig wurde Gerhard Schröder mit Buhrufen und Pfiffen bedacht. Der Kanzler gab sich trotzig. Den Demonstranten werde es nicht gelingen, die Sozialdemokraten mundtot zu machen, rief er.
Leipzig - Während des gesamten Kanzlerauftritts sangen Demonstranten zur Melodie von "Bruder Jakob": "Gerhard Schröder, schläfst du noch?" Außerdem sah sich der Regierungschef mit "Pfui"-, "Lügner"- und "Wir wollen Arbeit"-Rufen konfrontiert. Schröder war sichtlich genervt.
Den Versuch, die SPD zum Schweigen zu bringen, habe es in der Geschichte schon oft genug gegeben, schimpfte der Kanzler. Es werde aber nicht gelingen. "Verlasst Euch drauf", rief Schröder zum Landtags-Wahlkampfauftakt der sächsischen SPD in der "Bio-City", einem Bürokomplex in der Nähe der Innenstadt. Während im vorderen Teil des Veranstaltungsortes SPD-Anhänger mit Beifall die rund 15-minütigen Ausführungen Schröders begrüßten, ertönten aus den hinteren Reihen Pfiffe und Rufe. Unter anderem hatte die Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) Anhänger platziert, die mit Kanon-Gesängen den Kanzler verspotteten. Mindestens zwei Protestierer wurden von Ordnern aus dem Saal gedrängt.
Mehrfach wiederholte der Kanzler, dass die Demonstranten zu undemokratischen Mitteln griffen. "Egal ob es Steine, Eier oder Trillerpfeifen sind, das wollen wir in diesem Land nicht. Merkt euch das!"
Sie seien offenbar von Rechtsradikalen und der PDS aufgehetzt. Und sie schadeten damit dem Anliegen derjenigen, die bei Montagsdemonstrationen aus Angst heraus auf die Straße gehen, sagte Schröder. In der Folge verteidigte der Bundeskanzler vor den rund 800 Zuhörern die Arbeitsmarktreform Hartz IV als unerlässlich. Er sagte: "Unsere sozialen Sicherungssysteme müssen umgebaut werden, damit sie erhalten bleiben." Dazu gebe es "keine vernünftige Alternative". Das würden "spätestens wenn es zu spät ist, auch die Schreihälse begreifen".
Vermögenssteuer für Millionäre
Der sächsische SPD-Spitzenkandidat Thomas Jurk stellte sich auf der Leipziger Veranstaltung hinter die Arbeitsmarktreformen. Zugleich brachte er die Einführung einer Vermögensbesteuerung ins Gespräch. Wenn Millionäre sagten, sie wollten freiwillig Vermögenssteuer zahlen, sei das ein Signal, sagte der SPD-Fraktionschef im sächsischen Landtag. Zugleich warb er für die Einführung von Mindestlöhnen. "Wir Deutsche müssen unseren sozialen Standard erhalten und da sind Mindestlöhne ein wichtiges Instrument", sagte Jurk.
Die sächsische SPD will bei der Landtagswahl am 19. September die absolute Mehrheit der CDU brechen. Die Christdemokraten regieren seit der Wende in Sachsen allein.
Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) will am 6. September in Leipzig mit Teilnehmern der dortigen Montags-Demonstrationen diskutieren. Eine Ministeriumssprecherin bestätigte heute einen entsprechenden Bericht der "Stuttgarter Zeitung". An der Diskussionsrunde an der Leipziger Nikolaikirche sollen neben Clement auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der Leipziger Pfarrer Christian Führer teilnehmen.
"kein konkreter Handlungsbedarf" für Mindestlohn
In der Debatte über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns hielt sich der Kanzler betont zurück. "Ich will diese Debatte nicht abschneiden", sagte Schröder am Dienstagabend dem MDR Fernsehen. Es gebe aber "keinen konkreten Handlungsbedarf für ein Gesetz". Man müsse auch darüber nachdenken, welche nationalen und internationalen Auswirkungen es habe, Mindestlöhne einzuführen.
"Ich habe viel Sympathie für das gegenwärtige System, in dem Arbeitgeber und Gewerkschaften die Tarife selbst aushandeln", sagte Schröder der "Märkischen Allgemeinen". Diese Tarifautonomie habe "Deutschland stark und nicht schwach gemacht".
Der Kanzler forderte "eine wirkliche nationale Kraftanstrengung" zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Alle Unternehmen, Kommunen und Sozialverbände seien aufgerufen, zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten anzubieten, sagte er der Zeitung. Auch wenn dies "nicht über Nacht gelingen" werde, sei es wichtig, dass bei der Arbeitsmarktreform auch zusätzliche Arbeitsgelegenheiten angeboten werden.
Scharfe Angriffe gegen PDS
Schröder griff nach den Eierwürfen die PDS und Rechtsradikale scharf an. Der Protest gegen Hartz IV im Osten habe ein doppeltes Gesicht, sagte er im MDR-Fernsehen: "Auf der einen Seite die Ängste und Befürchtungen, auf die man eingehen muss. Andererseits der inszenierte, politisch genutzte Protest von PDS und Rechtsradikalen." Mit Protest, auch wenn er heftig sei, könne er umgehen. Wenn einzelne Gruppen aber Hass säten und bewusst desinformierten, könne er das nicht akzeptieren.
Die PDS vertrete den Standpunkt: Wenn alles so bleibt, wie es ist, wird alles schöner. Es gebe Menschen, die das glaubten. "Aber die Enttäuschungen in den neuen Ländern werden später gewaltig sein - wieder einmal, wie man leider sagen muss", sagte Schröder.
Es bestehe die Gefahr, dass die Parteien am rechten und linken Rand von den Protesten profitieren. Wer politische Führung ausüben möchte, müsse aber auch Verantwortung übernehmen. Diese Bereitschaft sei bei den extremen Parteien am linken und rechten Rand nicht vorhanden.