Frankfurter Rundschau, 26.08.2004
Kanzlerschelte: Fremder Osten
Kommentar von Axel Vornbäumen
Wir müssen uns unsere Biografien erzählen, hat Johannes Rau vor Jahren gefordert. Seinerzeit, Ende der 90er, ging es dem Präsidenten darum, die Gräben des Unverständnisses zwischen Ost und West zuzuschütten. Geklappt hat das nicht so recht. Die einen waren maulfaul. Und die anderen haben nicht zugehört.
Mittlerweile wird nicht mehr erzählt, es wird geschrien. Die Biografien derer, die schreien, sind trostlos. Und die Tristesse hat nichts mehr mit den spießigen Unterdrückungsmechanismen eines DDR-Regimes zu tun, sondern mit dem eigenen Scheitern in einer als fremd empfundenen Republik. Von Demütigungen spricht der frühere SPD-Regierungschef von Sachsen-Anhalt, Höppner, in der FR - eine erschreckende Bestandsaufnahme.
Nun hat der Kanzler die Gedemütigten kennen gelernt, in ihrer ganzen, hilflos vorgetragenen Wut. Fremd sind sie ihm geblieben, offenkundig. Die Opfer im Osten hat er getroffen, wie vor zwei Jahren bei der großen Flut, nur dass er selbst diesmal nicht als Retter kommt, sondern als einer, der verantwortlich gemacht wird für die Misere. Und so muss Gerhard Schröder etwas durcheinander geraten sein, als er, irritiert über das Ausmaß des Protestes, auf die Widerstandskraft der Sozialdemokraten während der Nazi-Diktatur anspielte, entschlossen, sich nicht "mundtot" machen zu lassen. Der Satz zeugt von Unverständnis? Nein, er ist ein Armutszeugnis.