Freie Presse Chemnitz, 16.01.2001
"Jugendlichkeitswahn" auf die Politik durchgeschlagen
"Landtagsketzer" Nolle diskutierte mit Wissenschaftler
DRESDEN. Abschaffen will er das Parlament nicht, nur reformieren. Doch die Behauptung allein, der Verlust des Landtages würde keine Wahrnehmungslücke aufreißen, hatte bei seinen Kollegen harsche Vorwürfe ausgelöst.
Karl Nolle, Landtagsabgeordneter der SPD, der sich im vergangenen Sommer in der „Freien Presse" kritisch über seine Zunft geäußert hatte, saß jetzt als Gast im Dresdner Societaetstheater neben einem Podiumsgast, der sich als Wissenschaftler mit Politik beschäftigt, Professor Werner Patzelt, von der TU Dresden.
Länder mit „mächtigem Parlamentarismus" und guten Leistungsindikatoren übten auch eine starke Anziehungskraft auf Zuzügler aus, hob Patzelt den Wert lebendiger Demokratien hervor. Den sarkastischen Publikumseinwurf, dann dürften die ostdeutschen Beispiele nicht funktionieren, konterte Patzelt mit der Zielrichtung Westdeutschland und dem Erfahrungsvorsprung, den der dortige Parlamentarismus erwerben konnte.
Auch Nolle wollte nicht als Gegner von Volksvertretungen missverstanden werden. In der bestehenden Form spiegelten sie aber nicht die Breite der Gesellschaft wieder. Was im Westen Lehrer und Beamte, seien in ihrer Übermacht im Osten die Naturwissenschaftler. Kein Widerspruch vom Politik-Professor.
Weniger Zustimmung von CDU Mitglied Patzelt konnte Nolle mit seiner Klage über die Ohnmacht der Opposition angesichts erdrückender Mehrheitsverhältnisse wie in Sachsen erwarten. Sein Wunschmodell einer gegenseitigen Kontrolle durch
Koalitionen hätten die Wähler hierzulande so nicht gewollt, gab Patzelt zu bedenken. Und das österreichische Vorbild mit Ministerposten auf Landesebene für Oppositionsvertreter sei nicht nachahmenswert. Das habe erst Haders FPÖ stark gemacht.
Schließlich Nolles dritter Reformansatz, die Abkehr vom Profipolitikertum. Rudolf Scharping und Helmut Kohl sind für ihn die klassischen Beispiele von Parteikarrieren ohne Erfahrung in einem „richtigen" Beruf.
Patzelt spricht von einem „Jugendlichkeitswahn", der in dieser Gesellschaft auf die Politik durchgeschlagen sei. Man wolle Erfahrung und junge Gesichter zugleich.
Reformbedarf sah die Runde auch im Zuständigkeitsanspruch von Parlamenten. Es gebe viele Bereiche, die die Gesellschaft ohne Zutun der Politik regele - manchmal zum Ärger der Politik. Und Landtage müssten sich die Frage stellen, ob sie sich nicht auf die Themen konzentrieren sollten, für die sie noch eine Kompetenz besitzen. Vieles, was sie beschäftigt, entzieht sich nämlich ihrer Zuständigkeit.
Für die Zusammenarbeit unter demokratischen Parteien sieht Wahlforscher Patzelt keine Tabus. „Wäre es nicht schön, wenn CDU und PDS eines Tages zusammenarbeiten könnten", fragte er.
(VON HUBERT KEMPER)