Sächsische Zeitung, 13.05.2005
Weiß-blauer Tropfen auf den heißen Stein
Autobauer BMW bringt mit seinem neuen Werk in Leipzig einen großen Hoffnungsträger in den Osten – doch davon allein wird längst nicht alles gut.
Der Himmel, zunächst in nassem Grau verhangen, reißt auf, und die Mai-Sonne lässt das helle Grau der riesigen Montagehallen am äußersten Nordostzipfel Leipzigs fast wie eine Erleuchtung erscheinen. 200 Hektar planiertes Land, darauf stehen die nagelneuen Hallen des „Industrieparks Nord“. Ihre Mitte verbindet ein auffälliger Zentralbau mit einer Außenhaut, die an einen Wal erinnert. Schräg gesetzte Stützen, leicht ansteigende Ebenen demonstrieren Leichtigkeit und Dynamik. Davor und drinnen zahlreiche barsch dreinblickende Jungs mit dicken Muckis der Sicherheitsfirma und wuselnde Tribünenbauer, Beleuchter und Techniker.
Heute kommt der Kanzler. Dann wird das neue BMW-Werk, in dem schon seit Monaten die Montagebänder auf Touren gebracht wurden, auch offiziell eröffnet. Davor herrscht hier, zumindest bei den Organisatoren, Ausnahmezustand.
Carola Lindemann steht an einem Apparat, der für eine winzige Nebensache am neuen BMW-Dreier sorgt. Ein Laser beschriftet kleine Schildchen, die dem Nutzer ein paar Sicherheitshinweise etwa für den richtigen Reifendruck liefert. Das Auto würde auch so fahren, aber die 34-Jährige aus Delitzsch hat deshalb kein Motivationsproblem: „Das gehört nun mal zum Auto, und ob ich am Band arbeite oder hier an diesem Platz, das ist nicht so wichtig.“ Wichtig war für sie der Job an sich. Unbefristet.
Carolas Lebensgeschichte ist eine von vielen in der Region rund um Leipzig, dabei gehört gerade sie doch zur Generation der Gewinner der Wende, jedenfalls in Politikerreden – neben der Generation der Rentner. 1989 schloss sie ihre Lehre ab und hätte gleich richtig D-Mark verdienen können. Sie war jung, flexibel, ungebunden und ordentlich ausgebildet. Allerdings in einem Beruf, in dem sie keiner mehr brauchte. Maschinist für Tagebaugroßgeräte hatte Carola gelernt, es war ihr Mädchentraum, einen riesigen Bagger zu steuern.
Ein Jahr später kam das Erwachen, es folgte noch ein Übergangsjahr bei der Rekultivierung („wir haben noch aufräumen müssen, was wir zuvor zerstörten“), dann diverse Umschulungen und jahrelang vergebliche Jobsuche. „Ich fühlte mich damals hundeelend“ – und heute wie nach dem Hauptgewinn in der Lotterie. In einer Stadt mit 20 Prozent Arbeitslosen ist ein Job bei BMW wohl auch so etwas.
Der neue Blaumann ist grau und sitzt leger, betont nicht gerade die Figur von Carola Lindemann, die neuerdings täglich früh schon vor sechs aus dem Haus geht und abends nach fünf heim kommt. „Danach bin ich ziemlich fertig, es strengt schon an. Lust habe ich dann nur noch darauf, mich um meinen achtjährigen Sohn zu kümmern, für viel mehr reicht es in der Woche nicht“, sagt die junge Frau.
„Los Mädel, trau dich“
Heute habe sie vor allem an den Wochenenden neuen Hunger auf das Leben und Erleben. Sie war fast schon zu tief in der Lethargie versunken, als BMW begann, Leute für das neue Werk zu suchen. 5 500 lukrative Jobs in einer Gegend, wo das größte Unternehmen das Rathaus ist. Aber nach ein paar Tagen hatten die Münchner schon mehr als die doppelte Zahl an Bewerbern im Kasten, und Carola Lindemann hätte beinahe vor dem ersten Versuch aufgegeben. „Mir schien das aussichtslos. Aber mein Vater hat gedrängt: Los Mädel, trau dich.“
Vier Wochen später kam eine Einladung, ganz früh am Morgen nach Leipzig zum Vorstellungsgespräch – und von dort aus gleich in eine besondere Art Fortbildung: für das Selbstbewusstsein. Hundert eher schüchterne Jobsucher hat BMW erst mal in ein sechswöchiges Trainingsprogramm gesteckt. Fitmachen für die eigentliche Bewerbung war das Ziel der Aktion, die auch gleich einen griffigen Namen aus dem Rennsport erhielt: „Pole position“. Carola meisterte das Training und auch die neunmonatige Ausbildung im Münchner Werk: „Das war hart, ich war nur zum Wochenende kurz zu Hause und merkte bald, dass ich wie ein Gast in meiner eigenen Familie war. Aber wir haben zusammengehalten, und die neuen Kollegen haben mich moralisch auch gestützt.“
Im Oktober dann kam das erste reguläre Gehalt auf ihr Konto, BMW-ler verdienen auch für westdeutsche Verhältnisse nicht schlecht. „Wir sind alle zusammen erst mal aufs Oktoberfest gegangen und haben gefeiert, aber ansonsten ist bei mir seither alles beim Alten geblieben“, sagt sie und wirkt selbst ein bisschen verwundert bei der Überlegung, welche neuen Möglichkeiten des Konsums sich nun öffnen. Bisher steht die alte Schrankwand noch in der kleinen Mietwohnung, eine Urlaubsreise ist nicht vorgesehen und der alte Ford, elf Jahre alt, hält hoffentlich noch eine Weile. Die Zurückhaltung teilt sie offenbar mit vielen Kollegen. Auf dem Werk-Parkplatz dominieren Kleinwagen aus dem vorigen Jahrhundert. BMW sind eher selten.
30 000 neue Arbeitsplätze
Im Leipziger Rathaus sind die Dankesreden für den großen Investor aus dem weiß-blauen Bayern längst geschrieben. Auch die Argumente liegen griffbereit, wenn jemand fragt: Ja, aber wo ist denn auf dem Arbeitsmarkt der Fortschritt nun sichtbar? „Wir brauchen Zeit für den Wandel, aber wir haben jetzt wirklich das Schlimmste hinter uns“, antwortet Detlef Schubert, Leipzigs Wirtschaftsbeigeordneter. Dass die Zahlen aktuell so schlecht für die Stadt und das Umland sind wie nie zuvor, relativiert er mit einem magischen, fast sturen Blick nach vorn: „Wir kurbeln jetzt nicht nur, wir merken auch, dass sich die Räder nicht mehr nur im Sand drehen.“ Etwas Geduld nur noch, aber bald gehe es aufwärts. 30 000 neue Arbeitsplätze sieht Schubert in ein paar Jahren neu heranwachsen, nennt aber keine Namen. Ein großer Erfolg war zuletzt die Ansiedlung des Logistikkonzerns DHL.
Carola hat den Sprung geschafft. Sie wirkt noch immer so, als könnte sie das alles nicht recht glauben, ein bisschen unsicher und übervorsichtig. Vielleicht hätte sie auf spätere Gesundungen der wirtschaftlichen Großwetterlage nicht mehr warten können. Ihr Lebenspartner und Vater des gemeinsamen Kindes hatte ebenfalls eine Bewerbung zu BMW geschickt. Wie mehr als 100 000 andere Leute auch. Er ist durchs Raster gefallen, nicht mal in die „Poleposition“ gekommen. Er kommt aus der Baubranche, was schlecht ist, weil hier vor allem, wenn überhaupt, beim Abbruch etwas läuft. Aber er schreibt neue Papiere. Bei DHL könnte es klappen – oder beim Computerbauer Dell in Halle. Diesmal war auch eine Bewerbung per E-Mail möglich. Von einem der ersten Gehälter hat Carola Lindemann einen PC gekauft und zu Hause aufgestellt. Ihrer Zukunft ist sie sich ja nun sicher.
Von Manfred Schulze