Stuttgarter Zeitung, Kultur, 01.02.2001
Streitwagen wenden
Peter Grohmann, ein Kabarettist blickt zurück auf seine Zeit im Osten
STUTTGART/DRESDEN. (Er ist Autor, Kabarettist und ein Wanderer zwischen Ost und West: Peter Grohmann. Vor knapp zehn Jahren ist er "nach drüben" gegangen. Für die StZ hat er zwei Mal in Momentaufnahmen aus Dresden berichtet. Nun ist er wieder in Stuttgart und zieht für die Stuttgarter Zeitung eine erste Bilanz)
Sonnabends beim Bäcker steht immer noch die Schlange, schon kurz vor sieben, wenn der Wessi noch schläft. Der Kluge aber kann länger schlafen, weil er die Brötchen vorbestellt hat - Pech für die Neuen aus dem Westen, die natürlich immer noch zu spät kommen. Sie ernten neben meinem mitleidsvollen Blick - ich weiß Bescheid nach manchem Konsumverzicht in fast zehn Jahren - auch den kritischen Blick der gelernten DDR-Bürger. Denn die Brötchen sind jetzt alle. Aber die Wessis profitieren wenigstens vom Preisverfall bei den Immobilien.
Es geht immer noch (oder wieder?) seinen Gang im Osten der Republik. Der ist behäbiger als weiter westlich. Die Quote der Arbeitslosen nicht nur in Dresden ist deutlich höher als der Stimmenanteil der Sozialdemokraten. Deren designierter Kandidat für die Oberbürgermeisterwahlen hat eben entnervt das Handtuch geworfen:
Karl Nolle. Der Verbandsvorsitzende der sächsischen und thüringischen Druckindustrie und "gelernte Sozialdemokrat" aus Hannover hat nach der Wende eine heruntergewirtschaftete Druckerei auf Kredit gekauft und zum innovativen, mittelständischen Musterbetrieb entwickelt, Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen und mit seinem Lichtdruck-Museum ein Weltkulturerbe gerettet, sich aber auch sonst vehement für Kultur und Soziales engagiert. Dresden freilich, so scheint es, kann derlei Einsatz noch kaum wahrnehmen. Zu tief sitzen die tradierten Vorstellungen vom Lauf der Dinge beim gelernten DDR-Bürger, der Nolle auch schon mal unter der Gürtellinie anging, wenn er ihn nicht gerade als Sponsor brauchte. Ein Beispiel für vieles.
Der Lauf der Dinge sieht so aus: Gewinner Wessi, Verlierer Ossi. So einfach ist das für viele. Der Wessi als Ellbogenmensch, jenseits aller Solidarität, hatte die besten Chancen, im richtigen Teil Deutschlands Karriere zu machen. Der Ossi hingegen in Geiselhaft der Sowjetunion, kurz gehalten in der Gleichheit mit ihrem marginalen sozialen Gefälle, zu kurz gekommen nach der Wende.
Vor fast zehn Jahren habe ich Abschied genommen von Stuttgart und die Koffer für Dresden gepackt, beladen mit allem Hab und Gut, mit vielen Hoffnungen, allerlei Erfahrungen, um mit Neugier und Eifer mitzugestalten - und mit Marlies im Arm, der famosen Architektin: Aufbau Ost. Da konnte nichts schief gehen, da war die Bürgerbewegung. Sie hatte das Überkommene gestürzt, der Staat war zu Ende, alle Fragen konnten neu gestellt werden. Wann kann man das schon mal in Zeiten, wo es mehr Antworten als Fragen gibt? Da war Aufbruch, das Gefühl, dass jeder gebraucht wird. Wurde aber nicht.
Klotzsche, fast eine Idylle im Dresdner Norden, nahe der Heide. Infineon und AMD und im alten Konsum der Grieche, viele Brachen, aber noch mehr alte Gemäuer im neuen Glanz, so wie unser Haus in der Goethestraße. Edelsanierung, sagen viele - aber im Wohnpark Fontane nebenan stehen nach wie vor viele der neu erstellten Wohnungen leer. Bei einem Mietpreis von unter zehn Mark für den Quadratmeter nicht nur ein schlechtes, sondern gar kein Geschäft für den Investor von westwärts. Das alte Kutscherhäuschen auf unserem großen Grundstück haben wir saniert für Kleinkunst: Vom Stasi zum Aldi monatlich im Sonderangebot, zwölf Mark für Satire, toskanischer Rotwein inklusive. Dazu Ausstellungen, Ost-West-Debatten und Lesungen mit dem Stadtschreiber. In unserem "Haus an der Grenze" residierten Guntram Vesper, Heinz Czechowski, Christoph Geiser, Annegret Herzberg und Wulf Kirsten jeweils ein halbes Jahr, aber als José Olivier anklopfte (der Spanier aus dem Schwarzwald ist Dresdner Stadtschreiber 2001), war das Häusle verkauft. Denn bei aller Liebe zu Kunst und Politik - die Räder an Grohmanns Streitwagen eierten, nicht nur, weil die Lust am Hinterfragen des Gewesenen und des Neuen zu mägerlich daherkam. Die Stadt Dresden hatte sich bei der Förderung vornehm zurückgehalten und dem Sponsor Stadtsparkasse sowie dem zu kleinen privaten Geldbeutel das Feld überlassen.
Dresdner Jahre, wie im Flug vergangen. Schöne Zeiten, aber auch bittere, denen es an Mitstreitern fehlte nach dem Aufbruch der ersten Zeit. Da ist der Dresdner Friedenspreis, 5000 Mark jährlich für Initiativen in Sachen Demokratie und Frieden. Wenigstens dieses Projekt wird weitergehen. Da sind Nonprofit-Publikationen wie Folkard Bremers jüngstes Buch "Am Anfang stand Hoyerswerda' - aber wer will schon wissen, was am Anfang stand, wenn große Angst herrscht vor den Fremden aus aller Herren Länder, größere Angst jedenfalls als vor den eigenen Jungs, die schon mal zuschlagen gegen den Fremden? Der alternative Stadtführer "Stattbuch' mochte noch angehen - aber bei den Recherchen nach Dresdens Vergangenheit zwischen 33 und 45 blieben die meisten Türen verschlossen. Übers Vergangene unterm Hakenkreuz hat man weiß Gott mehr als genug eingetrichtert bekommen, da ist man sich einig quer durchs Volk.
Die freundliche Stadtführerin mäkelt denn auch übers Mikrofon des Reisebusses nicht nur über den aus Köln kommenden Architekten der im Bau befindlichen Synagoge, sondern auch über die Juden, die "heute wieder die Hand aufhalten' für deren Wiederaufbau - wo doch alle wissen, "wie reich die sind'. So bleibt die Synagoge (Kosten zirka zwanzig Millionen Mark) ein Stiefmütterchen im Rosengarten der Frauenkirche, für deren Wiederaufbau 250 bis 300 Millionen fließen. Denn da entsteht endlich wieder ein Stück der Identität, die verloren ging in den Wechseljahren. So ist denn vielen August der Starke und seine Zeit näher als die neue Republik mit ihrem Durcheinander, ihren Skandalen, ihren Sprayern und Drogen, "die es damals nicht gab!'.
Alimentierung quer durch die Gesellschaft war längst ein Gewohnheitsrecht, als die Mauern fielen. So versandete mehr als eine neue Mark im Dickicht der Städte auf gewohntem Niveau, und so wird noch manche Million versanden. Na und? Wer wollte Verlierern verübeln, Gewinner zu werden wie wir? Der Osten reist und entdeckt die Welt. Und es gibt viel zu entdecken rund um den Erdball. Wir im Westen hatten die Zeit - vielleicht ist das jetzt die Zeit der anderen?
Hab ich Zweifel säen können in meinen Dresdner Jahren, Zweifel, dass nicht alles seinen Gang gehen darf? Vielleicht hab ich kein Fettnäpfchen ausgelassen, es standen viele herum. Aber vielleicht hab ich auch an den Brücken mitgebaut mit meinen Zweifeln und Vor-Urteilen, an den Brücken nach Dresden, das an seiner Synagoge und an seiner Frauenkirche weiterbauen muss.
Den Streitwagen wenden. Ich hab die Koffer gepackt in Dresden und Marlies in den Arm genommen. Und bin dabei, Stuttgart wieder zu entdecken. Die Akten der Zwangsarbeiter, die Synagoge, das Theaterhaus, das Vergangene und das Neue, an dem zu bauen wäre. Und die Fettnäpfchen.
(von Peter Grohmann)