Frankfurter Rundschau, 11.03.2006
DEVISE: Dumme Rentendebatte
Kommentar von Heiner Flassbeck
Zwar wird fast jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben, doch die Botschaft ist immer die Gleiche: Die deutsche Rente ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Auf Jahre hinaus gibt es keine Rentenerhöhung mehr, verkündet der Rentenminister. Länger arbeiten müsse man, um überhaupt noch etwas zu bekommen, was zum Leben reicht, sagen die "Experten". Und kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein junger smarter Mensch in irgendeiner Talkshow verkündet, seine Generation könne sich nicht mehr auf das "alte" Rentensystem stützen, weil es grundlegend versagt habe, und er müsse individuell vorsorgen.
Was ist bloß geschehen, fragt sich der naive Beobachter? Wie konnte ein System, das über Jahrzehnte den Deutschen treue Dienste geleistet hat und sogar dem beigetretenen Ostdeutschland quasi über Nacht übergestülpt wurde, so schnell in Misskredit geraten? Warum ist die Rente heute nicht mehr sicher, obwohl doch die Regierung auch weiterhin Jahr für Jahr viele Milliarden in deren Sicherheit investieren will?
Es ist die Demographie, Dummkopf, schallt es da dem Beobachter aus der Ecke der modernen "Reformer" entgegen. Die Alterung ist es, die einem System den Garaus macht, das darauf aufbaut, dass der arbeitsfähige Teil der Bevölkerung den Teil aushält, der nicht mehr arbeiten kann. Gibt es folglich mehr Alte, können die Jungen die Last nicht mehr tragen.
Es ist seltsam, wirft der Dummkopf ein, dass das etwas ganz Neues sein soll, wo sich doch seit Beginn der Menschengeschichte die Aktiven mit einigem Erfolg bemüht haben, so zu wirtschaften, dass sie sich selbst und anderen durch geringere Arbeitszeit das Leben erleichterten.
Die Gesellschaft altert - na und?
Haben nicht die Bauern der Frühzeit ihre eigenen Anstrengungen und die ihrer Familien dramatisch verringern können, als sie begannen, Ochsen und Pferde vor die Pflüge zu spannen? Hat man nicht aufgrund weiteren technischen Fortschritts irgendwann gar die Möglichkeit gehabt, die Arbeitszeit der Kinder und der Alten deutlich zu verringern und konnte trotzdem gut weiterleben? Haben wir nicht in der Geschichte der Zivilisation einem Elternteil die Möglichkeit geboten, sich mehr um die Erziehung der Kinder zu kümmern statt von früh morgens bis spät abends außer Haus zu schuften? Haben wir nicht in den sechziger Jahren aufgehört am Samstag zu arbeiten, ohne dass die Welt untergegangen ist?
Immer, beharrt der Dummkopf, haben weniger Arbeitsstunden der Aktiven mehr Freistunden für die Mehrheit der Gesellschaft finanziert, ohne dass das System zusammengebrochen wäre. Wenn es so weiter gegangen wäre, hätte man sich sogar der schönen Marx'schen Vision genähert, morgens jagen, mittags fischen und nachmittags philosophieren zu können, ohne dass man auf einen vernünftigen Lebensstandard hätte verzichten müssen. Denn das Kapital hätte einen immer größeren Teil unserer Arbeitskraft ersetzt. Die Tatsache, dass die Gesellschaft altert, spielt dann offenbar keine große Rolle mehr, weil immer weniger Arbeitsstunden aufgewendet werden müssen, um den Lebensstandard aller Bürger zu halten. Teilt man die zusätzliche Leistung, die das Kapital erbringt, vernünftig auf, kann man sogar weniger arbeiten und den Lebensstandard zugleich erhöhen.
Ersetzen wir nicht auch heute noch mehr Arbeit durch Kapital, um die Lebensverhältnisse weiter zu verbessern?, fragt der Dummkopf. Doch, brüllen nun alle Reformer, aber die Erträge, die daraus fließen, können nicht mehr an die Arbeiter verteilt werden, weil die Unternehmen mit diesen Erlösen unmittelbar Arbeitsplätze schaffen müssen. Wenn sie das aber tun, wirft verschüchtert der Dummkopf ein, warum ist die Alterung dann ein Problem? Wenn nämlich die fünf Millionen Arbeitslosen erst einmal untergebracht sind, sinken die Lasten für die junge Generation enorm. Wenn danach die Erträge den Arbeitern wieder gegeben werden, können sie die Alterung so leicht verkraften wie die Arbeitszeitverkürzung früher.
Du bist zu dumm, die komplexe Ökonomie zu verstehen, schreien die Reformer nun wild durcheinander. Der Dummkopf aber wendet sich mit Grausen - wie kann man hier noch länger hausen?