Frankfurter Neue Presse, 09.03.2001
Die grosse Wanderung
"Go West" - eine Bewegung beinahe wie in der DDR vor dem Mauerbau
LEIPZIG. Die jüngsten Zahlen vom Arbeitsmarkt sprechen eine deutliche Sprache über die wirtschaftliche Kluft zwischen Ost und West. Um 19.400 stieg im Februar die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland gegenüber dem Vormonat, 18.800 von ihnen kamen aus den neuen Bundesländern. Der wirtschaftliche Aufschwung geht am Osten vorbei.
"Go West", sagen sich deshalb viele Menschen - eine Bewegung beinahe wie in der DDR vor dem Mauerbau.
"Es gehen die Jungen, die gut Ausgebildeten", hatte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) geklagt. Im Westen springe die Konjunktur an, und in manchen Regionen dort herrsche ein Mangel an Fachkräften. Die Situation erinnere ihn an die 50er Jahre, sagte Höppner. "Damals wäre die DDR an einer solchen Entwicklung fast zu Grunde gegangen. Aber was sich jetzt auf die Beine macht, übersteigt die Zahlen von damals."
Nach Angaben des Bundespresseamtes vom Februar 1961 gingen von 1945 bis 1960 mehr als 2,9 Millionen Menschen aus dem Osten in den Westen. Allein in den Jahren 1954 bis 1959 zum Beispiel waren es mehr als 664.000 Jugendliche im Alter bis 25 Jahre, die der DDR den Rücken kehrten. Im selben Zeitraum gingen fast 12.900 Ingenieure und Techniker, etwa 13.800 Lehrer, fast 600 Hochschullehrer und mehr als 2.400 Ärzte. Eine Million Menschen haben seit der Wende den Osten verlassen. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit nach den neuesten Zahlen aus Nürnberg in den neuen Bundesländern mit 18,9 Prozent gegenüber dem Westen mit 10,1 Prozent erschreckend hoch.
Wenn der gegenwärtige Trend anhalte, werde Ostdeutschland bis zum Jahre 2020 noch einmal eine Million Menschen verlieren, warnte der Bundestagsabgeordnete Hartmut Büttner (CDU) aus Sachsen-Anhalt. Unter den dann im Osten Ansässigen wären zwei Drittel im Rentenalter. Wird der Osten zur jener Seniorenresidenz, die viele schon lange prophezeien?
Nach Ansicht von PDS-Fraktionschef Peter Porsch im Sächsischen Landtag ist nicht allein die Arbeitslosigkeit der Grund für die anhaltende Abwanderung. Auch Einschnitte bei der Finanzierung von Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen und bei der Kultur machten das Land immer weniger attraktiv. Ein weitere Ursache für den Weggang sind die nach Angaben der Gewerkschaften nach wie vor niedrigeren Löhne und Gehälter im Osten.
Um dem Trend entgegen zu wirken hat der SPD-Abgeordnete im Sächsischen Landtag
Karl Nolle von der Landesregierung Prämien für junge Leute gefordert, die nach Sachsen zurückkehren wollen. Der Freistaat solle Rückkehrwilligen unbürokratisch Umzugsbeihilfen in Höhe von 6.000 Mark zahlen.
Auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), der kürzlich mit seiner Äusserung, Ostdeutschland stehe auf der Kippe, zum Teil schwer in die Kritik geraten war, bereitet die Abwanderung Sorge.
Im Januar beschlossen die Ost-Wirtschaftsminister, dass unter Federführung Sachsens eine zusammenfassende Studie zur Abwanderung aus den neuen Ländern erarbeitet wird. "Die Zeit drängt", meint Ex-Aussenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), der in Halle geboren ist. Er fordert "eine grosse nationale Diskussion" über die Ostförderung.
Die Wirtschaftsdaten im Osten zeigen nur langsam nach oben. Viele junge gut ausgebildete Menschen gehen deshalb in den Westen, was den Osten weiter schwächt - ein teuflischer Kreislauf.
(von Sabine Fuchs)