Sächsische Zeitung, 02.11.2006
Brisante Lektüre in 80 Aktenordnern
Geheimdienst. Der Verfassungsschutz hatte angeblich hohe Beamte und Kommunalpolitiker im Visier.
Sieben Stunden brüteten die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) gestern im Landesamt für Verfassungsschutz über 80 Aktenordnern. Die fünf Parlamentarier des geheim tagenden Ausschusses sollen untersuchen, ob der sächsische Verfassungsschutz zwischen Juli 2005 und Mai 2006 illegal Informationen über die Organisierte Kriminalität (OK) im Freistaat gesammelt hat. Diesen Vorwurf hat der Datenschutzbeauftragte Andreas Schurig vor Kurzem erhoben (siehe Hintergrundkasten). Er verlangt von Innenminister Albrecht Buttolo (CDU) eine stärkere Kontrolle des ihm unterstehenden Landesamtes.
Kriminelle Netzwerke
Interessant ist aber offenbar nicht nur der Streit um die Aktivitäten des Verfassungsschutzes. Für politischen Zündstoff könnte auch der Inhalt der Aktenordner sorgen. Es geht darin laut Schurig um „mittlere bis schwerste Organisierte Kriminalität“, beobachtet wurden angeblich kriminelle Netzwerke in Sachsen. Nach nicht bestätigten Informationen sollen in diesen Fällen auch Spitzenbeamte des Freistaates und hochrangige Kommunalpolitiker in das Visier der Verfassungsschützer geraten sein. Sie sollen Kontakte zu obskuren Kreisen gehabt haben.
Ursprünglich wollte die Parlamentarische Kontrollkommission ihre Beratungen gestern abschließen. Womöglich wegen der Brisanz der Akten wurden weitere Sitzungstermine anberaumt. Ausschussvorsitzender Gottfried Teubner sagte, die Abgeordneten würden sich bis Ende November noch zwei Mal treffen, um das Aktenstudium fortzusetzen. Am 28. November will sich der Ausschuss auf ein Ergebnis verständigen.
Die Kontrollkommission steht vor der heiklen Aufgabe, ein eigenes Votum darüber abzugeben, ob die Verfassungsschützer, wie Schurig meint, rechtswidrig gehandelt haben. So sieht der CDU-Abgeordnete Frank Kupfer den Auftrag an das Gremium. Buttolo hatte die PKK gebeten, als eine Art Schiedsrichter eine Stellungnahme abzugeben, bevor er auf Schurigs Beanstandung antwortet. Ministerium und Landesamt waren bisher der Meinung, dass sich die OK-Abteilung im Rahmen von Recht und Gesetz bewegt hat.
Ob die strittigen Fälle jemals von der Justiz untersucht werden können, ist offen. In einer Antwort von Buttolo auf eine parlamentarische Anfrage des Grünen-Abgeordneten Johannes Lichdi heißt es, die gesammelten Informationen blieben bis zum Abschluss der Aktenprüfung durch die PKK gespeichert. Danach sollen sie den zuständigen Archiven angeboten oder gelöscht werden. Auch Schurig besteht darauf, dass die Daten nicht zur Strafverfolgung verwendet werden.
Nacht-und-Nebel-Suchaktion
Das Innenministerium will auf die Frage, ob es verpflichtet gewesen wäre, Erkenntnisse des OK-Referates im Verfassungsschutz an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, nicht antworten.
Eine Nacht-und-Nebel-Suchaktion sorgte unterdessen im Landesamt für Verfassungsschutz für Trubel. Dutzende Mitarbeiter mussten kürzlich alle Akten durchstöbern, die das inzwischen aufgelöste OK-Referat hinterlassen hat. Das Innenministerium als zuständige Fachaufsicht sagte dazu, es überprüfe, ob nach dem 28. Mai 2006 noch Daten gesammelt und gespeichert wurden. „Die operative Tätigkeit wurde an diesem Tag eingestellt“, sagte Ministeriumssprecher Lothar Hofner.
Von Thomas Schade und Karin Schlottmann