SPIEGEL 20/2007, Seite 56,, 13.05.2007
Sächsischer Sumpf
Der Dresdner Verfassungsschutz hat Hinweise auf Verbindungen von Politik, Justiz und Polizei zum organisierten Verbrechen. Die Akten sollen aber vernichtet werden.
Der Weg zum Allerheiligsten ist streng reglementiert. Er führt vorbei am gutgesicherten Landeskriminalamt, dann vorbei am Kampfmittelräumdienst und schließlich zur gläsernen Pforte des Sächsischen Landesamts für Verfassungsschutz in Dresden. Handys sind dort abzugeben, die Taschen werden penibel kontrolliert.
Dann öffnet sich normalerweise für die fünf Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) die Tür zu einem abhörsicheren Raum, in dem knapp hundert Aktenordner stehen. Die Volksvertreter dürfen sie, seit zehn Monaten, allerdings nur unter Aufsicht lesen. Wenn sie sich Notizen machen, kommen die in einen Panzerschrank. Und die Parlamentarier wissen: Auf Geheimnisverrat steht Haftstrafe.
Selten ist die Vorsicht so begründet wie in diesem Fall. Denn die 15500 Blatt Papier, die der sächsische Geheimdienst in den vergangenen Jahren — möglicherweise illegal — gesammelt hat, könnten in Sachsen vielleicht gar eine Staatskrise auslösen. Das Konvolut enthält Hinweise auf Korruption, Amtsmissbrauch, Verrat von Dienstgeheimnissen, auf Immobilienschiebereien, auf Kontakte von bekannten Politikern ins Rotlichtmilieu, auf Verbindungen von Leipziger Würdenträgern in die Pädophilenszene.
Glaubt man den Quellen des Geheimdienstes, sind einige Politiker, Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte, Polizisten, Bauunternehmer und Immobilienmakler in Mafia-Strukturen verwickelt. Vor allem in Leipzig scheinen die Grenzen zwischen Staatsgewalt und Unterwelt fließend zu sein. Aber auch in Chemnitz und im Vogtland fanden die Verfassungsschützer Anhaltspunkte für unschöne Verbindungen.
Das Problem dabei: Verfassungsschützer sammeln unbestätigte Informationen ihrer Quellen — aber sie gehen den Vorwürfen nicht so auf den Grund, dass dabei rechtlich verwertbare Beweise zustande kommen. Juristisch gesehen enthalten die Akten also nichts weiter als eine Gerüchtesammlung. Und Staatsanwälte können bis heute nicht Wahres von Unwahrem trennen, weil der Verfassungsschutz um seine Informanten fürchtet: Hinweise gingen nur spärlich bei der Justiz ein, für Anklagen reichte es nicht.
Vor allem aber: Statt Aufklärung der wuchtigen Vorwürfe von Geheimdienst-Informanten droht aus Gründen des Datenschutzes die Vernichtung des heißen Materials. Die regierende Große Koalition an der Elbe ist entschlossen, die gefährliche Blattsammlung zu schreddern. Schon in ihrer nächsten Sitzung am 25. Mai könnte die PKK so entscheiden.
Dass die geheimen Ordner überhaupt in die Hände von Abgeordneten gelangen konnten, ist dem Eigenleben des Dresdner Geheimdienstes zu verdanken. Obwohl in Sachsen höchstrichterlich festgelegt in der Regel die Polizei für die Verfolgung von Organisierter Kriminalität (OK) zuständig ist, zapften die Schlapphüte trotzdem fleißig ihre Quellen an. Das mobilisierte die Datenschützer: Die Geheimdienstler mussten ihre Papiere extern prüfen lassen.
Was Landesdatenschützer Andreas Schurig dabei fand, sind laut seinem Bericht Informationen über „mittlere bis schwerste Organisierte Kriminalität". Es sei „schwerwiegend gegen Strafgesetze" verstoßen worden. Alles erschütternde Erkenntnisse also — nur leider laut Datenschützern illegal. Die PKK könnte trotzdem entscheiden, Teile der Akten der Justiz zukommen zu lassen. Allerdings könnten dann wohl Parteifreunde der Abgeordneten in schweres Wetter geraten.
Die Lektüre führt die ausgewählten Parlamentarier von CDU, SPD und PDS immer wieder nach Leipzig — laut Aktenlage offenbar ein ganz besonderer Sumpf. Im Verfassungsschutz trägt der Vorgang den Tarnnamen „Abseits". Nur einmal, als die Stadt sich um die Olympischen Spiele bewarb, wurde dort genauer hingeschaut.
Das berühmt-berüchtigte „Leipziger Modell" — jener Klüngel, bei dem sich die Fraktionen im Stadtrat möglichst nicht weh tun — war kurzzeitig aus dem Gleichgewicht geraten. Der Olympia-Beauftragte Burkhard Jung verlor wegen dubioser Provisionszahlungen seinen Job — um freilich zwei Jahre darauf Oberbürgermeister zu werden. Der Kämmerer war wegen Untreuevorwürfen nicht mehr zu halten; der Ordnungsdezernent flog nebenbei aus dem Amt, weil er 57-mal ohne Führerschein unterwegs war.
Fünf Staatsanwälte und 68 Polizisten durchsuchten schließlich Büros und Wohnungen von Leipziger Rathausmitarbeitern und Angestellten verschiedener Baufirmen. Die sächsische Antikorruptionseinheit „Ines" vermutet Unregelmäßigkeiten bei Bauaufträgen.
All dies, so scheint es nun, war nur ein kleiner Teil des Gesamtbildes. Denn in den geheimen Akten des Verfassungsschutzes geht es noch um ganz andere Delikte —etwa um den Mordversuch an einem Mitarbeiter der städtischen Wohnungs- und Baugesellschaft, dessen schleppende Aufklärung manchem Ermittler reichlich merkwürdig erscheint.
Martin Klockzin war Hauptabteilungsleiter für Immobilien- und Eigentumsklärung, als er am 17. Oktober 1994 einem vermeintlichen Telegrammboten die Wohnungstür in der Spittastraße öffnete. Der Mann streckte Klockzin mit mehreren Schüssen aus einer Neun-Millimeter-Pistole, einer Ceska, nieder. Nur knapp konnten die Ärzte im Leipziger Diakonissenhaus Klockzin retten.
Bald hatten die Ermittler vier Kleinkriminelle als Verdächtige zur Hand, die tatsächlich zu ordentlichen Strafen verurteilt wurden: dreimal Lebenslang für die Anstifter und zwölf Jahre für den Schützen.
Das Urteil sorgte bei Insidern trotzdem für Irritationen. Die Richter waren deutlich über die Anträge der Staatsanwaltschaft gegangen — warum, blieb rätselhaft. Dafür fehlten vor Gericht die eigentlichen Drahtzieher, auf die es aber durchaus Hinweise gab.
Erst Jahre später begann sich der Nebel zu lichten, versuchten Ermittler das Große und Ganze zu sehen. Es gibt einen vertraulichen Bericht des Landeskriminalamts zu dem Mordversuch sowie „tangierenden Sachverhalten" — und das sind viele. Dieses Papier deutet ebenso wie die Akten des Geheimdienstes darauf hin, dass dubiose Netzwerke in der Stadt existieren.
Die Ermittler entdeckten nicht nur, dass der Beamte Klockzin ein millionenschweres Monopoly um Leipzigs Filetstücke erheblich behinderte. Sie staunten auch darüber, dass offenbar die halbe Leipziger Society mit dem Mordanschlag zu tun haben könnte: Eine angesehene Anwältin wird erwähnt, ein hoher Richter gerät ebenso unter Verdacht wie ein Bauunternehmer und die Gattin eines sehr hochrangigen Kommunalpolitikers. Allein die Ermittlungslage ist laut Kripo-Bericht diffizil — es gibt Hinweise, aber keine Beweise.
Auch zwei Vermisstenfälle irritieren die Ermittler. Beide könnten mit der Baumafia und dem Fall Klockzin zu tun haben. Am Nachmittag des 24. Juli 1996 verschwand die Justizsekretärin Barbara Beer spurlos. Die 49-Jährige arbeitete am Amtsgericht Leipzig, ihr blauer Renault wurde Anfang 1997 auf einem Aldi-Parkplatz in Leipzig gefunden. Erst 2000 entdeckten Arbeiter in der Raßnitzer Elsteraue ihren Schädel und weitere Skelettteile. Es gibt Hinweise, dass Beer im Dienst illegalen Immobiliengeschäften auf die Spur gekommen sein könnte. Doch die Ermittlungen führten zu nichts. Im Januar 2006 wurde der Fall zu den Akten gelegt — ungelöst.
Fünf Monate bevor Beer verschwand, verließ der 24-jährige Michael Mielke seine Wohnung in Leipzig-Burghausen. Er wollte nach Berlin fahren. Doch da kam er nie an. Sein blutverschmiertes Auto fand sich in Leipzig-Lützschena — doch von Mielke fehlt bis heute jede Spur. Die Staatsanwaltschaft schließt Mord nicht aus. Mielke soll im Leipziger Immobiliengeschäft mitgemischt haben. Die Ermittler fanden Verbindungen zu jenen Kriminellen, die wegen des Klockzin-Attentats verurteilt wurden. Allein: Auch dieser Fall liegt im Archiv, Leipziger Polizei und Staatsanwaltschaft stellten ihre Bemühungen im Fall Mielke ein.
Im Klockzin-Bericht kommen die Fahnder zu dem Fazit, dass in diesem Verfahren „Bereiche berührt worden sein könnten, die nicht bekannt werden sollen".
Als wäre dies alles nicht genug, sehen die Ermittler auch Hinweise auf Verbindungen des Falles zu einem Bordell, das nun auch in den umfangreichen Akten der Verfassungsschützer wieder auftaucht. Das Haus mit dem Namen „Jasmin" wurde 1993 in Leipzig ausgehoben. Junge Mädchen aus Tschechien — teilweise erst 13 Jahre alt — waren dort zur Prostitution gezwungen worden.
Glaubt man den Quellen des Verfassungsschutzes, dann haben höchste Kreise aus Leipzig dort und in anderen Etablissements verkehrt — und sich damit erpressbar gemacht. Es soll nach den Informanten des Verfassungsschutzes Videomaterial geben.
Ermittelt wurde nicht, dafür servierte man ausgerechnet jene OK-Ermittler ab, die nach weiteren Hintermännern des Klockzin-Attentats gesucht hatten. Wegen angeblicher Strafvereitelung im Amt wurde der OK-Chef der Leipziger Polizei beurlaubt. Insgesamt sechs Ermittlungsverfahren liefen gegen den Beamten, neun Monate wurde er suspendiert. Am Ende wurden die Ermittlungen eingestellt, doch der Polizist ist dauerhaft abgeschoben, in die Abteilung Kriminaltechnik.
Noch wird in Dresden gerätselt, wie nun mit dem brisanten Material der Verfassungsschützer umzugehen sei. Experten des Dienstes hatten zwar erschütternde Erkenntnisse über einen Leitenden Oberstaatsanwalt und einen Richter zur Übergabe an die Justiz vorbereitet — doch die Beamten wurden ausgebremst.
Eine erste Konsequenz hatte die geheime Akteneinsicht der Datenschützer gleichwohl schon. Eine Informantin der Geheimdienstler im Umfeld des Leipziger Rathauses wurde offenbar enttarnt. Die sonst eher unauffällige Frau sei, so Geheimdienstler, von Unbekannten unter Drogen gesetzt worden — und nur knapp
dem Tode entronnen.
Von Steffen Winter