Karl Nolle, MdL

DER SPIEGEL 46/2007, Seite 78, 11.11.2007

"Das Blutbad geht noch weiter"

Die Folgen der US-Immobilienkrise sind für die Finanzbranche weitaus dramatischer als bislang bekannt.
 
Die Folgen der US-Immobilienkrise sind für die Finanzbranche weitaus dramatischer als bislang bekannt. Allein den Wall-Street-Schwergewichten drohen Verluste von über 200 Milliarden Dollar. Auch deutschen Geldinstituten stehen noch harte Zeiten bevor.

Noch im Oktober sah die Welt für Citigroup-Chef Charles Prince halbwegs geordnet aus. Zwar brachen die Gewinne seiner Bank da bereits ein; doch sein größter Aktionär, der saudische Prinz Walid Ibn Talal, behielt die Nerven. Das sei doch "bloß ein Schluckauf", erklärte der arabische Multimilliardär.

Wenig später, Anfang vorvergangener Woche, musste ein anderer Citigroup-Profi ran: Sandy Weill flog im Firmenjet nach Riad. Der 74-Jährige war bis 2003 Vorstandschef der damals weltgrößten Bank und hatte das Unternehmen in den neunziger Jahren zum weitverzweigten Finanzkonzern ausgebaut. Jetzt war sein Lebenswerk in Gefahr.

Weill wusste, dass der "Schluckauf" in kürzester Zeit hochbedrohlich geworden war. "Wir diskutierten, was falsch läuft", sagt Prinz Walid über das Krisengespräch.

Das Gipfeltreffen in Saudi-Arabien provozierte an der fernen Wall Street ein wahres Beben. Nur wenige Tage nach dem Rauswurf von Stan O'Neal, Chef der Investmentbank Merrill Lynch, musste auch Citi-Mann Prince seinen Posten räumen.

Beide Manager hatten sich gründlich verschätzt. Jetzt müssen ihre Häuser etwa acht bis elf Milliarden Dollar abschreiben. Und auch damit ist jenes Drama wohl kaum überstanden, das im Hochsommer begonnen hatte.

Damals hatten die ersten Institute und Hedgefonds Alarm geschlagen: Die US-Immobilienblase drohe zu platzen. Hausbesitzer konnten auf einmal ihre Kredite nicht mehr abzahlen, die sie vorher aufgenommen hatten - immer in der Hoffnung, die Werte ihrer Immobilien würden munter steigen.

Seither fordert die Krise immer neue Opfer. Längst geht es nicht mehr um Millionen, sondern um Milliarden. Und trotz regelmäßiger Beschwichtigungsformeln aus Politik und Notenbanken erwischt es nicht mehr nur die kleinen Banken, sondern auch die Branchenriesen.

So gut wie alle Wall-Street-Schwergewichte und etliche Kreditinstitute in Europa hat das Desaster weit härter erwischt als bislang angenommen. Auf über 40 Milliarden Dollar addieren sich bereits die Abschreibungen der zehn größten Verlierer. Und selbst das ist erst der Anfang.

"Ich glaube, dass wir noch immer nicht alle Risiken kennen", mutmaßte Alexander Dibelius, Deutschlandchef von Goldman Sachs, erst vor zwei Wochen. Kurz danach erwischte es seine Kollegen bei Citi und Merrill Lynch.

Wirtschaftswissenschaftler und Zentralbanker erwarten schon einen Totalverlust von über 200 Milliarden Dollar. "Das Blutbad geht weiter und wird sich noch deutlich verschlimmern", glaubt Nouriel Roubini, einer der profiliertesten US-Ökonomen.

Der Grund seiner Angst: Bislang legten die Banken nur ihre Zahlen fürs dritte Quartal 2007 vor. Das endete für die meisten im August oder September. Seither hat sich die Immobilienkrise weiter verschärft. Im vierten Quartal drohen massive Einbrüche.

Das ganze Ausmaß des Debakels wird wohl erst mit den verbindlichen Jahresabschlüssen im Frühjahr bekannt. Denn in den Quartalsbilanzen können die Banken ihre Verluste noch einigermaßen unbeobachtet vor sich herschieben.

Die Folge: Nach wochenlangem Kursfeuerwerk stürzte der US-Leitindex Dow Jones in den vergangenen Tagen steil nach unten. Die Liquiditätshilfen und Zinssenkungen der Zentralbanken sind wie auf einer Herdplatte verzischt.

An den Börsen der Welt machen sich Angst und Misstrauen breit. Ein Frankfurter Banker orakelt: "Wir stehen gerade am Beginn der zweiten Tsunami-Welle."

Und deren Auswirkungen dürften über den Bankensektor hinausreichen. Schon meldet Amerikas größter Versicherungskonzern AIG fürs dritte Quartal einen Gewinneinbruch von 27 Prozent. Nach den minderwertigen Haushypotheken (sogenannten Subprimes) stehen in den USA jetzt auch Subprime-Kreditkarten sowie Subprime-Autofinanzierungsverträge auf der Sorgenliste. Wem gerade der Hauskredit platzt, der kann auch seine Kreditkartenrechnung oder das auf Pump gekaufte Auto nicht mehr abzahlen.

Mit einem Ölpreis von fast 100 Dollar pro Barrel und der rasanten Talfahrt des Dollar verdunkeln sich zudem die Aussichten für die US-Wirtschaft - und damit auch für die Weltkonjunktur.

Bei einer Anhörung vor dem US-Kongress warnte US-Notenbankchef Ben Bernanke am vorigen Donnerstag vor den Folgen der Krise: höhere Inflation, wegbrechender Konsum und niedrigere Wachstumsraten. Sein EU-Kollege Jean-Claude Trichet, Chef der Europäischen Zentralbank, schlug am gleichen Tag wegen der "brutalen Bewegungen" des Euro Alarm.

Ausgerechnet in dieser Lage weitet sich das Hypothekenproblem der Banken zu einer Vertrauenskrise aus, die schon an den Zusammenbruch der US-Skandalkonzerne Enron und Worldcom erinnert. Die erste Anlegerklage wurde bereits eingereicht, die Börsenaufsicht SEC knüpft sich dubiose Bilanzierungspraktiken vor, New Yorks Generalstaatsanwalt Andrew Cuomo weitet seine Ermittlungen aus.

So kompliziert viele Bankgeschäfte heute sind, so schlicht dagegen die Motive der Hauptakteure: Leichtsinn und Gier.

Beispiel Stan O'Neal: Als Vorstandschef trieb er Merrill Lynch in immer riskantere Immobiliendeals. Die kurzfristig hochprofitablen Geschäfte verschafften ihm satte Erfolgsprämien. Dass das gesamte Modell auf wackligen Füßen stand, musste den Mann nicht kümmern - zum Abschied kassierte er persönlich von seinem Arbeitgeber insgesamt 162 Millionen Dollar.

Um ihre Gewinnziele zu erfüllen, hatten die Bankchefs und ihre Händler die Risikokontrolle ihrer Finanzinstrumente immer wieder auf später vertagt. Was würde passieren, wenn Boeing oder der Pharmakonzern Johnson & Johnson Produkte mit ähnlicher Fehlerquote auslieferten?, fragte das "Wall Street Journal" hämisch und wetterte: "An der Wall Street stehen die Verhältnisse auf dem Kopf."

Im Starkult um ihre Topmanager haben es die Bankaufsichtsräte zudem unterlassen, Nachfolgepläne für die Konzernspitze zu entwerfen. Das rächt sich jetzt. Die Auswahl an Kandidaten ist überschaubar. Derzeit besonders gefragt: Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann.

Unterdessen häufen sich die Einschläge bei anderen US-Banken. Morgan Stanley: minus 3,7 Milliarden Dollar. Wachovia: minus 1,1 Milliarden - und das sind nur die Zahlen vom Ende vergangener Woche.

Während Wall-Street-Händler um ihren zuletzt üppigen Weihnachtsbonus bangen, brummen bei Analysten der Marktforschungsfirma CreditSights die Großrechner. Ihre aktuellen Verlustprognosen fürs vierte Quartal: 5,1 Milliarden Dollar bei Goldman Sachs, 3,9 Milliarden bei Lehman Brothers und 3,2 Milliarden bei Bear Stearns, dessen Chef James Cayne ebenfalls als angeschlagen gilt. Auch bei der britischen Barclays soll es bald krachen.

Das Fiasko hat längst auch Deutschland erreicht: Zwar schafften Deutsche Bank, Commerzbank und Hypo Real Estate trotz massiver Abschreibungen zuletzt gestiegene Quartalsgewinne. Doch damit ist die Unsicherheit noch nicht aus dem Markt.

Erst zu ihren testierten Jahresabschlüssen "müssen alle die Hosen runterlassen", erklärt ein Experte für Risikomanagement. "Im letzten Quartal kann man also noch einiges nachlegen." Bislang hätten die Deutschen nicht so hart bewertet wie die Amerikaner oder Schweizer Banken wie UBS. Alles also eine Einschätzungsfrage?

Banker, Prüfer und Verbände liefern sich heiße Diskussionen über die Bewertung der komplexen Kreditprodukte, für die es derzeit kaum Marktpreise gibt. Weder die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht noch das Institut der Wirtschaftsprüfer geben klare Anweisungen. Das Vakuum lädt zu Kosmetik ein.

Besonders bei den Landesbanken, die derzeit ihre Bilanzregeln umstellen, wird ein Etikettenschwindel heiß diskutiert. Was früher zu reinen Handelszwecken eingekauft wurde, um einen schnellen Euro zu verdienen, könnte nun flugs zur langfristigen Kapitalanlage deklariert werden.

Der Clou: Schmerzhafte Kursverluste bei Handelspositionen fließen direkt in die Gewinn- und Verlustrechnung. Bis zur Fälligkeit gehaltene Papiere müssen dagegen nicht nach aktuellen Marktpreisen bewertet werden. Es gelten die Anschaffungskurse. Fertig ist die bilanzielle Scheinwelt.

Die Angst vor Zeitbomben in den Bilanzen lässt dabei jenen Geldmarkt zittern, bei dem sich die Institute gegenseitig Geld leihen. Jeder misstraut jedem - trotz aller Interventionen der Zentralbanken.

Schon läuft die Jahresend-Rallye um jene Gelder, die erst im Januar zurückgezahlt werden müssen. Niemand möchte riskieren, die täglichen Geldflüsse seiner Bank nicht mehr gewährleisten zu können. "Ab Mitte Dezember schließen nämlich die meisten die Bücher. Dann gibt es kaum noch Geld", sagt ein Londoner Banker.

Das macht das Geld teurer. Die Finanzmanager stopfen mit den frischen Mitteln vor allem die Löcher in ihren bankeigenen Milliardenfonds.

Doch dort scheint jeder vermeintliche Ausweg aus der Falle schmerzhaft. Entweder schießt man neues Geld ein, das vielleicht im Nu wieder verbrannt ist. Oder es drohen verheerende Zwangsverkäufe, die die Preise für Kreditprodukte nochmals auf breiter Front ins Rutschen bringen.

Akute Gefahr besteht bei dem über zwei Milliarden Euro schweren Sachsen Funding I. Die Landesbank Baden-Württemberg und weitere Investoren müssen in den nächsten vier Wochen entscheiden, ob sie nachschießen - oder dichtmachen.

Bei einer Investmentgesellschaft namens "Ormond Quay" - verantwortlich für den Notverkauf der Sachsen LB an die schwäbischen Kollegen - läuft die Rettung bereits.

Um einen Zusammenbruch zu verhindern, hatte das Lager der Sparkassen vor Wochen eine Kreditlinie von 17,3 Milliarden Euro zugesichert. Davon übernahm allein die DekaBank 6 Milliarden Euro, wovon bislang aber nur rund 500 Millionen Euro abgerufen wurden.

Und auch die Kollegen von der WestLB greifen inzwischen zu umfangreichen Rettungsmaßnahmen. Ihrem 3,3 Milliarden Dollar schweren Finanzkonstrukt Kestrel musste die WestLB "eine Kreditlinie zur Unterstützung der Liquidität gewähren", bestätigt ein Sprecher.

Damit sei die "volle Rückzahlung aller Schuldtitel garantiert". So konnte zudem eine Herabstufung durch die Ratingagentur Moody's verhindert werden. Die WestLB glaubt, dass sich die Kurse des Kestrel-Portfolios wieder erholen. Es ist überhaupt sehr viel von Glauben die Rede zurzeit in einer Welt, die von harten Zahlen dominiert wird. Angespannt ist die Lage auch bei der WestLB-Gesellschaft Harrier Finance, die ein Volumen von elf Milliarden Dollar umfasst.

Droht da bald der totale Ausverkauf? Das käme so manchem Finanzjongleur erstaunlicherweise gelegen. Es kreisen bereits die ersten Geier, die von dem Schaden profitieren wollen.

Einer von denen ist Börsenguru Bill Gross. Der Gründer des Allianz-Rentenfonds Pimco deckt sich seit Tagen zu Spottpreisen mit den vermeintlichen Ramschpapieren ein.

Riesen wie Goldman Sachs und die Royal Bank of Scotland tun es ihm gleich und investieren nun Gelder ihrer vermögenden Kunden. Sollte sich der Markt erholen, könnten sich diese Vabanquespieler im globalen Finanzcasino über deftige Gewinne freuen.

"Wenn ich die Mittel hätte", meint der Vorstand einer hiesigen Landesbank neidisch, "würde ich jetzt auch kaufen, kaufen, kaufen."
BEAT BALZLI, FRANK HORNIG

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: