Karl Nolle, MdL

Freitag - Die Ost-West- Wochenzeitung, 04.01.2008

Zu viel Flucht

Mit dem Thema Mindestlohn wird die SPD nicht glaubwürdiger
 
Den Sozialdemokraten geht es im Kern unverändert schlecht, obwohl mehr als die halbe Republik inzwischen sozialdemokratisch fühlt und denkt. Aber die SPD selbst spürt Aufwind und hofft auf die Wahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg. Sie sieht sich gut gerüstet: Kurt Beck positioniert sich und seine Partei zunehmend als regierungsinterne Opposition, ist mit sich deshalb zufrieden und mit seiner Partei auch, denn in der ist er nach dem Rückzug von Franz Müntefering unumstritten. Nach verlässlichen Umfragen drohen Ole von Beust, Roland Koch und Christian Wulff nennenswerte Stimmenverluste. Und mit dem Thema Mindestlohn könne sie die bereits angeschlagenen CDU-Länderfürsten treiben, glaubt die SPD.

Es spricht einiges dafür, dass Union und Kanzlerin die Dynamik des Themas Mindestlohn unterschätzt haben. Aber: Viel bringen wird das der SPD nicht. Einerseits tut die Union ihr nicht den Gefallen, die Tür zuzuschlagen und das Thema zu blockieren. Zweitens trägt Merkel gute Argumente gegen einen gesetzlichen Mindestlohn vor: Die Tarifpartner sollten erst noch einmal ran; starke Gewerkschaften wie die IG Metall denken das auch. Und wenn drittens die SPD in dieser Frage die Union treibt, ist sie zugleich auch Getriebene: von der Linkspartei.

Zudem laufen die Sozialdemokraten Gefahr, vom jetzigen Aufschwung in verschiedene Parteien aufgespalten zu werden - dazu gibt es bisher drei Lesarten. Die erste: Das ist gar kein Aufschwung. Die Realeinkommen sind seit Amtsantritt der großen Koalition noch einmal etwas gesunken. Und wenn es zusätzliche Arbeitsplätze gibt, dann nur schlecht bezahlte. Die zweite Lesart: Ja, das ist ein Aufschwung, aber den gibt es wegen des Investitionsprogramms der Regierung Merkel, der Exportstärke und der Weltkonjunktur. Die dritte Lesart: Diesen Aufschwung gibt es wegen Hartz IV und der Agenda 2010.

Drei SPDen antworten. Ottmar Schreiner ist für Lesart 1. Andrea Nahles ist vermutlich für 1,8 bis 2,2 - Kurt Beck ist entschlossen für die Lesart 2,5. Wolfgang Clement, Franz Müntefering, Gerhard Schröder, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier sind für die Lesart 3. Ob sich in der öffentlichen Debatte darüber eine Deutung durchsetzt und wenn ja, welche, das ist an Bedeutung nicht zu überschätzen: Denn aus der jeweils herrschenden Sichtweise kann leichter die dazu passende Politik begründet werden; und die Lesart 3 sagt beispielsweise: Hartz IV ist nicht das Problem, sondern die Lösung, also mehr Hartz IV die noch bessere Lösung.

Mit dieser Agenda 2010, dem Umgang mit diesem die Partei spaltenden und lähmenden Erbe und manchem der zuletzt genannten Namen ist das die SPD vermutlich belastendste Problem verbunden. Es geht um die inzwischen auffällig lange Liste fliehender Sozialdemokraten. Es geht um die Tugend der Haltung, der Wertschätzung dessen, was einem an Werten und Idealen einmal wichtig war. Die einzelnen Fälle unterscheiden sich deutlich, sehr verschieden sind Anlässe und Motive. Es handelt sich um klassische Rücktritte, Rückzüge, Abschiede von Werten und Inhalten. Am Ende steht jedoch jedes Mal eine Flucht. Mögen es begründete oder unbegründete sein - es sind erstaunlich viele Fluchten, die etwas über den Menschen erzählen, aber zugleich auch über diese Partei.

Dazu zählt Oskar Lafontaine, der SPD-Vorsitzender war und jetzt als Vorsitzender einer anderen Partei seine einstige bekämpft. Dazu zählt Rudolf Scharping, der nach seinem unrühmlichen Ende als Politiker nun Lobbyarbeit für Unternehmen leistet. Dazu zählt Matthias Platzeck, der als Parteichef aufgab, weil er krank wurde, vielleicht weil er auch inhaltlich nicht heimisch werden konnte. Dazu zählt Wolfgang Clement, der - nachdem er im Amt ausreichend deutlich gemacht hatte, was er von Unterschichtlern hält - sich nun öffentlich gern zu den Themen Zeit- und Leiharbeit äußert, steht er inzwischen doch in Diensten des Zeitarbeitskonzerns Adecco. Dazu zählt Franz Müntefering, der einmal aus einem schlechten und einmal aus einem guten Grund zurücktrat. Und dazu zählt - die Krönung - Gerhard Schröder, der als Kanzler in eine für diese Demokratie würdelos begründete vorzeitige Bundestagswahl flüchtete, der nach dem Abgang seine rot-grüne Koalition als politische Missgeburt verriet und der nun als Wladimir Putins Angestellter für Gazprom Türen öffnet.

Die Zahl hochrangiger Sozialdemokraten, die vor dem fliehen, was an Aufgaben ansteht, die vor dem fliehen, was sie zuvor getan haben, die das verleugnen, was ihnen früher einmal wichtig war, ist zu groß geworden, als dass dies im Grundsatz nicht die Glaubwürdigkeit dieser Partei beschädigte. Unter anderem deshalb geht es der SPD im Kern unverändert schlecht, obwohl mehr als die halbe Republik sozialdemokratisch fühlt und denkt.
Wolfgang Storz

Karl Nolle im Webseitentest
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