spiegel online, 23.03.2008
Finanzkrise: Bundestagspräsident diagnostiziert Massen-Frustration
Münchens Erzbischof Marx warnt: "Die Geldgier hat die Menschen in die Irre geführt."
Überall Frust und Enttäuschung: Nach Einschätzung von Bundestagspräsident Lammert machen die Bürger derzeit massenweise negative Erfahrungen - "in Wirtschaft, Finanzen, Politik, sogar im Sport". Münchens Erzbischof Marx warnt: "Die Geldgier hat die Menschen in die Irre geführt."
Hamburg - Bundestagspräsident Norbert Lammert macht sich große Sorgen wegen der Finanzkrise. Die Lage auf den internationalen Finanzmärkten sei nicht hoffnungslos, aber ernst. "Es geht längst um mehr als eine vorübergehende Schlechtwetterfront. Es geht um ein gravierendes gesellschaftliches Problem", sagte der CDU-Politiker der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".
Irreparabel sei dieses Problem freilich nicht. Nach Lammerts Einschätzung erleben zahlreiche Menschen derzeit viele Enttäuschungen gleichzeitig: "in Wirtschaft, Finanzen, Politik, Medien - sogar im Sport". Es falle schwer, einen gesellschaftlichen Bereich zu finden, in dem es zuletzt keine Frustrationserfahrungen gegeben habe.
Vertrauen entwickle sich aber nur über persönliche Erfahrungen. "Deshalb braucht man sich nicht zu wundern, wenn heute aus Enttäuschung über Fehlentwicklungen oder die Verfehlungen einzelner Wirtschaftsvertreter auf das Versagen des ganzen Systems geschlossen wird", sagte Lammert der Zeitung.
Der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, sieht Geldgier als Ursache der aktuellen Bankenkrise: "Ein erster Schock war schon das Platzen der Internetblase im Jahr 2000, als selbst seriöse Banken die Leute unter dem Banner der Gier zum Aktienkauf getrieben haben", sagte Marx der "Bild am Sonntag". "Und jetzt hat die Geldgier die Menschen schon wieder in die Irre geführt."
Die weltweite Finanzkrise beurteilte Marx als "bedrohlich". Es sei immer noch unklar, welche Auswirkungen diese auf die Wirtschaft haben werde. Gestern hatte Marx bereits für Aufsehen gesorgt, als er forderte, die Löhne in Deutschland müssten steigen.
"Wir brauchen eine Ordnungspolitik für die Weltwirtschaft, auch gerade im Blick auf die Kapitalmärkte", verlangte nun Marx, der auch Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz ist. Nötig sei außerdem eine moralische Vorbildfunktion von Managern. Derzeit setzten die Aufsichtsräte die ökonomischen Anreize für die Erfolgsbeteiligung so, dass die Manager nur auf die Börsennotierung und die vierteljährliche Kapitalrendite achteten. "Alle anderen Dinge werden dann unwichtig. Das ist doch keine unternehmerische Verantwortung", rügte Marx.
Finanzexperten erwarten derweil eine weitere Verschärfung der Bankenkrise. "Wir sehen erst die Spitze des Eisbergs", sagte die Wirtschaftswissenschaftlerin Carmen Reinhart von der US-Universität Maryland der "Welt am Sonntag". Sie gehe davon aus, dass weitere Banken ins Trudeln geraten werden.
"Es gibt in jedem Fall noch viele angeschlagene Bilanzen", sagte Reinhart, die früher selbst bei der US-Investmentbank Bear Stearns tätig war. "Die faulen Kredite müssen erst aus den Bilanzen raus, und das passiert nicht über Nacht". Bis dahin verliehen die Banken nur äußerst vorsichtig Geld, das habe Folgen für die Wirtschaft. "Es wird daher nicht im nächsten Monat alles wieder im Reinen sein", betonte Reinhart.
Auch Gerd Häusler vom Investmenthaus Lazard fürchtet, dass viele Banken in den kommenden Wochen neue Verluste verkünden müssen. "Für eine Reihe von Banken sieht das begonnene Jahr in puncto Wertberichtigungen schlechter aus als 2007", sagte Häusler der Zeitung. "Jetzt wird sich die Spreu vom Weizen trennen."
wal/AFP/AP/dpa