spiegel online, 11.05.2008
Rückzug der Rhetoriker - Ende einer Politiker-Generation
Wortduelle, Argumentationsschlachten, prägnante Diktion: Der Abgang von Schröder, Struck und Co bedeutet nicht nur die Verabschiedung von Männern aus einer Zeit, in der noch politisch gekämpft wurde - er ist auch das Ende einer goldenen Rhetorik-Ära.
Da gehen sie nun hin und verlassen die große politische Arena, die Senioren der Generation Schröder, geboren und aufgewachsen Anfang und Mitte der vierziger Jahre, als der Zweite Weltkrieg Europa verwüstete. Manche ziehen sich erst nach der Bundestagswahl im Herbst 2009 zurück, andere schon jetzt. Es ist mehr als das Ende politischer Karrieren: Es ist das Ende einer Generation, ein Abschied von gestern, als noch politisch gekämpft wurde.
Nicht um die vierte Novellierung der Pflegeversicherung wurde da gestritten, oder um die Reform der Pendlerpauschale und die Verlängerung der Bezugsdauer von "Hartz IV" um ein paar Monate, sondern ums Ganze. Um die Grundausrichtung der Republik und die Perspektiven Europas, um Krieg und Frieden, ja, um die Demokratie selbst und ihre künftige Ausgestaltung. Nicht jeden Tag, nicht jede Woche, aber doch ein paar Mal im Jahr.
Das Ergebnis waren große Redeschlachten, die sich ins historische Gedächtnis der Bundesrepublik eingegraben haben, ins Bewusstsein ihrer unbestreitbaren Erfolgsgeschichte, die im kommenden Jahr den sechzigsten Geburtstag feiern kann.
Das leuchtende Beispiel dessen, was später nur noch sprachlich parfümiert als "Streitkultur" durch die Fernsehstudios waberte, waren die heftigen Debatten um die Ostverträge Anfang der siebziger Jahre.
Peter Struck und Ludwig Stiegler, zwei der sozialdemokratischen Altvorderen, die jetzt, fast zeitgleich mit Hans Eichel, Otto Schily und anderen, das Ende ihrer politischen Karriere angekündigt haben, waren auch nur Zaungäste, als Herbert Wehner und Rainer Barzel, Willy Brandt und Franz-Josef Strauß, Helmut Schmidt und Otto Graf Lambsdorff das Rednerpult im Bundestag zum rhetorischen Feldherrenhügel machten – deutlich mehr Krieg als Kultur.
Doch immerhin gehören sie noch zu jener Nachfolgegeneration, die weder Sabine Christiansen noch Anne Will kannte und das öffentliche Reden noch auf Marktplätzen, tumultösen Parteiversammlungen, in überfüllten Hörsälen und polemischen Parlamentsdebatten gelernt hat. Ihre Einschaltquote hieß Bierzelt oder Unterbezirksparteitag, und der Feind stand noch klar erkennbar auf der anderen Seite der Barrikade. Trotz des Godesberger Programms, das ja auch nichts daran geändert hatte, dass Helmut Kohl immer nur verächtlich von den "Sozen" sprach. Kurz gesagt: Es war das ewige Duell Bayern München gegen Werder Bremen auf dem Spielfeld der Politik.
Reden vor dem leuchtenden Horizont der Zukunft
Was dort der Steilpass in die Tiefe des Raumes, war hier die scharfe Klinge des treffenden Wortes, die Rhetorik der Vollstreckung.
Argumente wurden zu Waffen in einem Streit, der nicht einfach in der nächsten Koalitions- oder "Konsensrunde" aufgelöst werden konnte. Hinter den Kombattanten der Wortschlachten standen symbolisch noch die Armeen zur stellvertretenden Befreiung der Menschheit beziehungsweise zu ihrer Rettung vor den kommunistischen Horden aus dem Osten. Geschichte war kein musealer Begriff wie heute, sondern gesättigte, leidenschaftliche, oft auch schmerzhafte Gegenwart. Es gab noch echte Vertriebene, echte Kommunisten und echte Reaktionäre.
Viele der älteren Protagonisten waren noch in der Ära von Weimarer Republik, Hitlerfaschismus und Weltkrieg groß geworden – ein einzigartiger biografischer wie politischer Referenzrahmen, den kein weißes Betroffenensofa bei "Anne Will" ersetzen kann. Ein Kurt Beck wäre damals allenfalls Kassierer des SPD-Ortsvereins Bad Kreuznach geworden.
Aber man darf nicht ungerecht sein. Für die Zeiten, in die jemand hineingeboren und womöglich zum Politiker wird, kann der einzelne nichts. Und: Auch in den vermeintlich "guten alten Zeiten" gab es jede Menge Taktik und Kleinklein, Missgunst und Intrige, Mittelmaß und Peinlichkeit. Der Unterschied: Damals mussten noch allerlei Grundsteine gelegt werden, der Horizont einer anderen Wirklichkeit leuchtete noch in satten Farben.
Dabei ging es nicht nur um die großen Reformwerke wie Renten- und Krankenversicherung, Mitbestimmung und Arbeitsrecht, NATO-Vertrag und europäische Einigung, sondern auch um die Verfahren der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie selbst. Die epochale Konfrontation mit dem sowjetisch dominierten "Ostblock" lud selbst alltägliche Angelegenheiten, die Normalität des politischen Betriebs, mit dem Pathos einer prinzipiellen Alternative auf, einer historischen Mission. Es galt, die zweite deutsche Demokratie gegen jede Bedrohung zu verteidigen.
Die Macht des Wortes
So machte eine ganze Generation neben allem – unvermeidlichen – Parteienstreit, neben Grabenkampf und spontanem Dampfablassen auf dem Parteitag eine Erfahrung, die durch die Herrschaft des nationalsozialistischen Terrors schon beinah ausgelöscht schien: die Leidenschaft fürs Argument, für die Macht des Wortes und die angewandte Vernunft in einem politischen System, das eben nicht auf Herrschaft, Gewalt und Vernichtungsdrohung aufgebaut sein sollte, sondern auf der Idee vom friedlichen Ausgleich der Interessen, wer will: auf den herrschaftsfreien Diskurs.
Selbstverständlich konnte dies immer nur die hehre Leitlinie sein, nie erreichbarer Idealzustand und utopischer Fluchtpunkt aller irdischen Bemühungen zwischen Ausschusssitzung, Hinterzimmertreffen und Wahlkampfvorbereitung. Aber die Erinnerung an das Zeitalter des Totalitarismus war noch frisch, und selbst in den verzweifelt pessimistischen Briefen des Schriftstellers Stefan Zweig, der vor den Nazis bis nach Brasilien geflohen war und sich dort im Februar 1942 das Leben genommen hatte, schien der Glaube an die magische Kraft des freien Wortes auf und die Hoffnung, damit der Wahrheit zur Sprache und schließlich zum Sieg zu verhelfen.
Es ist diese Emphase für die Freiheit, die auch die Rhetorik jener langen Nachkriegszeit antrieb, in der die demokratische Bundesrepublik laufen lernte. Sie prägte eine ganze Generation, sie war der Maßstab auch für die große öffentliche Rede und erzog zum klaren Sprechen, für das bis heute beispielhaft Helmut Schmidt steht.
Wer heute alte Parlamentsdebatten und Radiodiskussionen hört, fühlt sich in eine andere Welt versetzt: Druckreife Formulierungen, nicht selten in einer fast überzogen prägnanten Diktion, zwischen Pathos und autoritärer Anmaßung changierend. Die Botschaft war unmissverständlich: Hier kommt es auf jedes Wort an, das nötig ist, den Gedanken zu formulieren, der zur Wirklichkeit drängt.
Im postmodernen Nirvana
Noch die frühen 68er – nicht zuletzt die Generation von Struck und Stiegler – waren Wort- und Schriftgläubige in dieser Tradition, auch wenn sie sich bald ihre eigene Geheimsprache schafften, den ideologisch-rhetorischen Kosmos einer revolutionären Gegenwelt. Dennoch, auch in ihren Versammlungen 1967/68 herrschte noch eine fast seminaristische Grammatik: Es galt das gesprochene Wort, nicht das gesimste, gemailte oder gechattete.
Doch längst hat die Mediengesellschaft von Internet, Privatfernsehen und iPhone auch die Bedingungen der politischen Rhetorik verändert. Ihr Bezugsrahmen ist nicht Geschichte und Zukunft, Melancholie und Utopie, schon gar nicht das "Bohren dicker Bretter" (Max Weber), sondern die unmittelbar erregte Aufmerksamkeit, gemessen in Quoten und Klicks, Hypes und Megahypes. Dieser Umstand alleine reduziert die Halbwertzeit der politischen Rede dramatisch. Mehr noch: Sie wird ernsthaft kaum noch geübt, kaum noch beherrscht. Es scheint nicht einmal wirklich Bedarf nach ihr zu bestehen. SPD-Chef Beck jedenfalls verliest nur noch seinen ausgekippten Zettelkasten.
Vielleicht ist das auch nur konsequent in Zeiten, da Dieter Bohlen das rhetorische Erbe der Kommune 1 übernommen hat, der Flachbildschirm zum Symbol der Zeit geworden ist und die Generalsekretäre der beiden still vor sich hin schrumpfenden Volksparteien SPD und CDU Hubertus Heil und Ronald Pofalla heißen. Vom Huber Erwin der CSU nicht zu reden.
Wer weiß: Womöglich haben unsere Vorväter von diesem Zustand ewigen Friedens in Europa ja immer geträumt: Eine dezente Plauderrunde mit weißem Sofa. Ein Hauch von postmodernem Nirvana.
Rhetorisches Feuer ist da so überflüssig wie der Heizer auf der E-Lok.
Von Reinhard Mohr