spiegel-online, 31.08.2008
HESSENS LINKSPARTEI-CHEF: "Die SPD ist zu einer Koalition mit uns nicht in der Lage"
Die Linke will Andrea Ypsilanti zur Macht verhelfen, doch wie geht es weiter?
Im SPIEGEL-ONLINE-Interview stellt Hessens neu gewählter Linkspartei-Chef Ulrich Wilken weitreichende Forderungen an eine rot-grüne Minderheitsregierung - er verlangt ein Beschäftigungsprogramm und das Ende der Ein-Euro-Jobs.
SPIEGEL ONLINE: Herr Wilken, Ihre hessische Linkspartei will die SPD-Politikerin Ypsilanti zur Ministerpräsidentin wählen und über die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung beraten. Trotzdem sprechen Sie von "gravierenden Differenzen" mit den beiden Parteien. Was trennt Sie denn von der SPD?
Wilken: Die Sozialdemokraten schätzen industrielle Großprojekte völlig anders ein als wir. Die Stichworte: Die Flughäfen Frankfurt und Kassel-Calden. Wir werden weiter gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens kämpfen. Natürlich wissen wir, dass es bereits das Planfeststellungsverfahren gibt. Das muss aber an einer Stelle wieder aufgemacht werden: Wir wollen ein echtes Nachtflugverbot. Das muss her. Und Kassel-Calden darf nicht gebaut werden.
SPIEGEL ONLINE: Auch die von Ihnen geforderten Investitionen in ein öffentliches Beschäftigungsprogramm zur Schaffung von 25.000 Arbeitsplätzen dürften in Gesprächen Schwierigkeiten bereiten.
Wilken: Wir wollen Jobs schaffen, von denen die Menschen leben können. Damit meinen wir: Keine Ein-Euro-Jobs mehr in Hessen. Es geht uns um tariflich entlohnte Arbeitsplätze.
SPIEGEL ONLINE: Das wird viel Geld kosten.
Wilken: Ja, es geht aber um Armutsbekämpfung. Und die hat für uns eindeutig Priorität vor einem schuldenfreien Haushalt. Wir wollen ganz bewusst kreditfinanzierte Investitionen, um die Lebensbedingungen der Menschen hier im Land zu verbessern - und zwar jetzt.
SPIEGEL ONLINE: Und wo sehen Sie Schwierigkeiten mit den Grünen?
Wilken: Die Grünen haben andere Vorstellungen in der Schulpolitik, sie wollen das vielgliedrige Schulsystem noch erweitern, während wir ein längeres gemeinsames Lernen anstreben. Unser Ziel ist die Gemeinschaftsschule als Regelschule bis zur zehnten Klasse. Und vor allem: Den Grünen ist ein schuldenfreier Haushalt wichtiger als aktuelle Politikfähigkeit. Wir müssen aber jetzt Projekte zur Armutsbekämpfung anstoßen.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt keineswegs so, als könnte am Ende der Gespräche mit SPD und Grünen tatsächlich eine Tolerierung stehen.
Wilken: Wir haben doch seit unserem Parteitagsbeschluss vom Samstag eine neue Grundlage für den Politikwechsel. Ob es zu einem Tolerierungsvertrag kommen kann, werden wir jetzt erörtern. Eine Wahl von Ypsilanti zur Ministerpräsidentin wird an unseren genannten Prioritäten jedenfalls nicht scheitern.
SPIEGEL ONLINE: Und darüber hinaus?
Wilken: Sollte am Ende auf dem Papier stehen, dass Kassel-Calden gebaut wird, kann ich mir gut vorstellen, dass unsere Parteimitglieder sagen: Das geht nicht. Sollen dagegen 15.000 Jobs geschaffen werden - statt der von uns geforderten 25.000 - werden unsere Genossen möglicherweise sagen, dass ein solcher Schritt immerhin in die richtige Richtung geht. Darauf kommt es an. Aber etwas zu bauen, was wir auf keinen Fall wollen, wäre ganz sicher die falsche Richtung.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Bundesparteivorsitzender Oskar Lafontaine hat auf dem Parteitag in Lollar von einer "Tolerierung, Zusammenarbeit oder was auch immer" in Hessen gesprochen. Wäre also möglicherweise denkbar, dass die Linkspartei in eine Koalition eintritt?
Wilken: Wir haben auf unserem Parteitag einen Verhandlungsauftrag bekommen, der keine Tür zumacht. Aber die SPD ist nicht in der Lage, mit uns eine Koalition einzugehen. Dazu wären nur Teile der SPD bereit.
SPIEGEL ONLINE: Und die Linkspartei selbst?
Wilken: Wir stehen jetzt am Anfang von Verhandlungen, aber man sollte es so sehen: Eine rot-grün-rote Koalition wäre mit Blick auf das demokratische Prinzip nicht das weitergehendere Modell als eine Tolerierung.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie konkret?
Wilken: Bei einer Tolerierung müsste jedes Gesetz offen im Parlament verhandelt werden, da würde es keine Entscheidungen hinter geschlossenen Kabinettstüren geben - weil die Mehrheiten nicht da wären. So etwas stellt Öffentlichkeit und Transparenz her.
SPIEGEL ONLINE: Sie wollen im Fall einer Tolerierung auch Bundesratsinitiativen einbringen, die den politischen Überzeugungen der Linkspartei Ausdruck verleihen - etwa die Forderungen nach einer Abschaffung von Hartz IV und der Rente mit 67. Glauben Sie ernsthaft, Rot-Grün würde sich darauf einlassen?
Wilken: Ich glaube, die beiden Parteien werden zu vielem nicht bereit sein, was wir fordern. Es wird Abstimmungen im Parlament geben, bei denen wir unterliegen. Aber unsere Intention ist ganz klar: Wir wollen aus Hessen den politischen Wechsel auch in den Bund tragen.
SPIEGEL ONLINE: Die Unions-Ministerpräsidenten Christian Wulff und Peter Müller fordern bereits das Ende der Großen Koalition in Berlin, sollte sich Ypsilanti mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen lassen. Fürchten Sie, die Hessen-SPD könnte doch noch wegen des bundespolitischen Drucks einknicken?
Wilken: Wenn ich mir den Kopf über die Probleme der SPD zerbrechen müsste, käme ich nicht mehr zum Schlafen.
Das Interview führte Björn Hengst