www.tagesschau.de, 06.09.2008
Ist die SPD keine Volkspartei mehr?
Interview mit dem SPD-Linken Ottmar Schreiner
Die SPD ist eine Partei in Nöten: Man könne bei den derzeitigen Umfragewerten nur noch schwer von einer "Volkspartei" sprechen, sagt Ottmar Schreiner im Gespräch mit tagesschau.de. Der SPD-Linke wird am kommenden Mittwoch sein Buch "Die Gerechtigkeitslücke" in Berlin vorstellen.
tagesschau.de: Wer ist schuld an dem disparaten Bild, das die SPD bereits schon länger abgibt?
Ottmar Schreiner: Das hängt unter anderem mit den pausenlosen Wechseln in der SPD-Führung zusammen.
tagesschau.de: Das heißt, sie plädieren für Kontinuität an der Spitze - also für einen Verbleib von Kurt Beck im Amt?
Ottmar Schreiner: Ich bin wirklich für Kontinuität in dieser Personalie.
tagesschau.de: Werden Sie als Person und mit ihrer Position, die viele andere Sozialdemokraten teilen, genügend eingebunden von der SPD-Spitze?
Ottmar Schreiner: Das wird man in der kommenden Zeit sehen. Beim Aufruf der sechzig Sozialdemokraten für eine linkere Politik, den ich mit unterschrieben habe, hat man ja gesehen, dass unsere Position bis weit hinein in die Gewerkschaften auf Unterstützung stößt. Insoweit muss die Partei sich ja fragen, wie man aus diesem Umfrageloch wieder heraus kommt. Bei Werten von 20 oder 21 Prozent der Wählerstimmen - wo uns die Umfrageinstitute im Moment verorten - kann man nur noch sehr schwer von einer "Volkspartei" reden.
Mein Buch macht den Versuch, die Ursachen der Entwicklung freizulegen, dass wir im Kernwählerbereich große Schwierigkeiten haben, die Zustimmung zu erhöhen. Und umgekehrt, dass sehr viel Glaubwürdigkeit verlorengegangen ist. Dass die Arbeitnehmer nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass die SPD ihre natürliche Interessenvertretung ist. Das hat eben auch mit der Politik der letzten zehn Jahre zu tun. Das zu leugnen wäre misslich.
tagesschau.de: Als politischer Beobachter hat man den Eindruck, dass die SPD immer noch nicht mit dem Schröder-Erbe klarkommt. Es ist für Außenstehende zur Zeit schwer zu erkennen, wofür die Partei steht. Welche Person kann die SPD retten?
Ottmar Schreiner: Der Parteivorsitzende gibt sich sehr große Mühe. Seine Parole "nah am Menschen" zu sein, ist nicht zufällig gewählt. Er hat in vielen Gesprächen sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass gewisse Auswirkungen der Agenda 2010-Politik große Ängste bei den Leuten hervorgerufen haben.
tagesschau.de: Spricht er mit Ihnen?
Ottmar Schreiner: Ja.
tagesschau.de: Das heißt, eher das Lager von Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück ist das Problem?
Ottmar Schreiner: Ich würde nicht von Lagern reden. Die entscheidende Frage ist, ob die Partei insgesamt unabhängig von den Flügeln die Kraft hat, eine differenzierte Beurteilung der Agenda 2010 vorzunehmen. Dabei geht es nicht darum, pauschal zu sagen, dass alles, was mit der Agenda 2010 zusammenhängt, falsch war, aber ebenso falsch wäre es zu sagen, die Agenda 2010 war insgesamt positiv.
tagesschau.de: Muss erst die Frage der Kanzlerkandidatur geklärt sein, bevor die SPD sich an dieses schwierige Thema wagen kann?
Ottmar Schreiner: Ich sehe da keinen direkten Zusammenhang. Wer Kanzlerkandidat werden will, muss ein Interesse daran haben, die SPD möglichst in ihrer ganzen Breite hinter sich zu scharen, um dann einen motivierten und mobilisierungsfähigen Wahlkampf zu führen.
tagesschau.de: Was ist Ihre Absicht bei diesem Buch? Wollen Sie damit politisch bewirken, dass etwa die Hartz-IV-Reform zurückgenommen wird. Oder wollen Sie die SPD als Partei inhaltlich neu ausrichten?
Ottmar Schreiner: Mein Grundanliegen war, dass ich über die Prekarisierung der Arbeitswelt schreiben wollte: Unsichere Beschäftigungsverhältnisse, die den Menschen keine längerfristige Planung mehr ermöglichen. Das hat sich dann thematisch ausgeweitet zu der Frage: Wieviel Spaltung der Gesellschaft verträgt eine Demokratie?
Die vielen Formen von Armut, zum Beispiel wachsender Kinderarmut, sind die Schattenseiten der Gesellschaft. Auf der anderen Seite ein kumulierter Reichtum, den man in unserem Land in diesem Ausmaß bisher nicht kannte. Das hat nach meiner festen Überzeugung mit sozialer Marktwirtschaft nichts mehr zu tun. Das ist die Rückkehr in eine relativ fest geprägte Klassenstruktur.
tagesschau.de: Aber das sagen Sie alles schon seit 2003 - dem Beginn der Schröder–Reformen innerhalb des Agenda 2010-Programmes.
Ottmar Schreiner: Ich habe versucht, es in einen Zusammenhang zu bringen. Mir ist die Botschaft wichtig: Bildungsreformen werden es allein nicht bringen, vieles hängt am Geld und an einer gerechteren Verteilung.
tagesschau.de: Was heißt das konkret?
Ottmar Schreiner: Wir brauchen Mindestlöhne und eine angemessene Beteiligung an gesellschaftlichem Reichtum. Wir haben die schlechteste Reallohn-Entwicklung aller europäischen Länder in den letzten zehn Jahren. Wir haben auf der anderen Seite mehrere Steuerreformen hinter uns, die diejenigen begünstigt, die ohnehin schon sehr viel besitzen. Hier sehe ich dringenden Korrekturbedarf. Jede Politik hat Alternativen – und ich versuche, wenigstens einige Elemente dieser Alternativen aufzuzeigen.
tagesschau.de: Wie hoch schätzen Sie die Zustimmung der Partei für Ihre Position ein?
Ottmar Schreiner: Je tiefer man an die Basis der Partei geht, umso stärker wird die Zustimmung. Ich habe in aller Regel bei meinen Veranstaltungen und auch bei der Partei insgesamt eine hohe Zustimmungsrate.
Das Interview wurde geführt von Corinna Emundts, tagesschau.de