Neues Deutschland ND, 18.10.2008
Man hätte heulen können
ND-Interview mit dem Berliner Landes- und Fraktionschef der SPD, Michael Müller, über Krise und Lernfähigkeit seiner Partei
ND-Interview mit dem Berliner Landes- und Fraktionschef der SPD, Michael Müller, über Krise und Lernfähigkeit seiner Partei
ND: Die SPD wählt mal wieder einen neuen Chef. Ist sie damit nach all den Turbulenzen wieder in ruhigem Fahrwasser?
Müller: Wir sind auf dem Weg dahin. Die Führungsfrage eindeutig zu klären, war überfällig. Natürlich erwarten wir mit Spannung die Rede des Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, weil inhaltliche Orientierung genauso wichtig ist.
Sieht man die Mitgliederentwicklung in den letzten Jahre, muss man feststellen, dass auch der frühere und künftige SPD-Chef Franz Müntefering die Talfahrt nicht aufhalten konnte. Der richtige Mann an der richtigen Stelle?
Ja. Weil er sowohl organisatorisch als auch inhaltlich Orientierung geben kann. Dass die Mitgliederentwicklung bei uns schwierig ist, ist richtig. Aber es ist leider überhaupt in unserer Gesellschaft ein Problem, dass sich immer weniger Menschen in gesellschaftlich wichtigen Organisationen – Parteien, Gewerkschaften Kirchen, Sportverbänden – engagieren. Dass wir es als Politiker nicht schaffen, Menschen zu begeistern, muss zu Selbstkritik Anlass geben.
Gehört dazu nicht auch, den Mitgliederschwund womöglich mit der Politik der SPD zu begründen?
Deshalb habe ich ja von Selbstkritik gesprochen. Aber von unseren Verlusten haben andere Parteien nicht entsprechend profitiert. Insofern ist es für alle ein Problem.
Was bedeutet ein Vorsitzender Müntefering für Rot-Rot in Berlin?
Wir hatten da mit Franz Müntefering nie ein Problem, er hat uns nie in unsere Koalitionsfrage reingeredet. Müntefering hat immer akzeptiert, was wir hier tun und dass wir es auf einer gut und seriös verhandelten Grundlage machen. Wir waren uns mit ihm einig, wir können und wollen kein Modellfall für andere sein.
Mit Hessen ist er nicht glücklich.
Stimmt. Aber auch da ist er zurückhaltender als andere. Und dann sind die Voraussetzungen in Hessen auch andere als in Berlin. Die LINKE ist im Landtag eine neue politische Kraft, die die SPD nicht richtig einschätzen kann. Und es gibt im Westen noch nicht diese Selbstverständlichkeit, mit der LINKEN umzugehen. Das alles sind schwierige Startvoraussetzungen und ich habe Verständnis für die Bedenken des Parteichefs.
Willy Brandt musste es erfahren, Rudolf Scharping auch, Gerhard Schröder war es nach kurzer Zeit leid, Müntefering hat nach einer einzigen Abstimmungsniederlage den Parteivorsitz geschmissen und Kurt Beck wurde aus dem Amt gemobbt. Ist die SPD-Zentrale eine Schlangengrube?
Wir machen es uns manchmal selbst schwer. Es ist kein Geheimnis, dass es in der SPD Flügel gibt. Hinter den Flügeln verbirgt sich eine Richtungsdebatte, die mitunter auf Kosten von Personen ausgetragen wird. So etwas gibt es auch in anderen Parteien – aber in der Bundes-SPD wird diese Form des Umgangs mitunter sehr gepflegt. Müntefering hat deutlich gemacht, dass er das nicht akzeptieren will und vor allem, dass es nicht nötig ist. Wir haben unser Hamburger Grundsatzprogramm, dem mit breiter Mehrheit zugestimmt worden ist. Wir brauchen keinen innerparteilichen Richtungsstreit.
Aber stimmten nicht in Hamburg die Delegierten gegen den damaligen Vizekanzler Müntefering und für Ex-SPD-Chef Kurt Beck?
Der Hamburger Beschluss hat in einer einzigen Sachfrage eine andere Position als Franz Müntefering gehabt – bei der Verlängerung des Arbeitslosengeldes I. Aber das Hamburger Grundsatzprogramm ist viel mehr. Es formuliert unser Gesellschaftsbild. Und da gibt es keinerlei Differenzen zu den Ansichten von Franz Müntefering.
Wie haben Sie eigentlich Kurt Becks Abgang empfunden?
Das war wirklich kein Ruhmesblatt für die SPD. So geht man nicht mit Vorsitzenden um – egal, ob man Kritik an der Amtsführung hat oder nicht. So geht man auch menschlich nicht mit einem Vorsitzenden um, der über Jahre viel für die Partei geleistet hat. Aber noch mal, das ist kein spezielles SPD-Problem. Es ist ein Problem, wie in der Politik auch durch Medien ein Druck auf handelnde Personen entsteht, dem sie nicht gewachsen sein können. Wenn die Partei dann nicht solidarisch ist, sondern dem Druck nachgibt, gibt es solche schlimmen Situationen.
Viele Jüngere in der SPD sind mit der Entscheidung, einen 68-Jährigen an die Parteispitze zurückzuholen, nicht glücklich.
Mit den Befürchtungen der Jusos verbindet sich die Vorstellung, dass jetzt alte politische Konzepte aus der Schublade geholt werden. Das ist völliger Quatsch, Müntefering ist auf der Höhe der Zeit. Was 2003 in vielen Reformansätzen nötig war, ist 2008, 2009 nicht mehr per se der richtige politische Ansatz. Die Welt bewegt sich weiter. Wir erleben das gerade in diesen Tagen, wenn wir auf die Finanz- und Wirtschaftsmärkte schauen. Darauf muss die SPD immer reagieren und wir haben Antworten.
Apropos Finanzkrise. Deutet das Schulter-an-Schulter-Agieren von Union und SPD darauf hin, dass die Große Koalition bis Herbst 2009 durchhält?
Die elf Monate werden wir miteinander schon noch schaffen. In der jetzigen Situation ist es sogar nicht das Schlechteste, in einer Großen Koalition agieren zu können, um den Wirtschafts- und Finanzstandort zu stabilisieren. Aber sobald wir politische Mehrheiten jenseits davon haben – für Rot-Grün oder die Ampel –, wird die SPD sie nutzen. Weil Große Koalitionen das Land lähmen und nicht beflügeln. Daran ändert auch die Wirtschaftskrise nichts.
Der Börsengang der Bahn war in der SPD umstritten. Das Vorhaben liegt zunächst auf Halde, allerdings nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern aus finanziellen. Wird die Zukunft der Bahn die SPD demnächst wieder spalten?
Erst einmal bin ich sehr zufrieden mit der Verschiebung. Ich rechne damit, dass wir die Diskussion doch noch in eine andere Richtung lenken können – weil man bei der Mobilitätsgarantie für die Bevölkerung nicht privaten Interessen hinterherlaufen sollte. Wir sehen gerade in diesen Tagen, wie wichtig es ist, unabhängig von Privaten agieren zu können.
Und was wird unter Müntefering aus den Hartz IV-Korrekturen von Kurt Beck?
Wir haben korrigiert, wo wir den dringendsten Handlungsbedarf gesehen haben. Es wird mit der SPD nicht möglich sein, diese Reform auf Null zu drehen. Die grundsätzliche Richtung wollen wir nicht in Frage stellen, da es auch viele positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt gibt. An der Umsetzung allerdings hapert es bisweilen.
Finden Sie es nicht erstaunlich, dass für die Bankenrettung Unsummen aus dem Boden gestampft werden – für eine Hartz IV-Korrektur aber die Mittel fehlen?
Ich bin tatsächlich erstaunt, welche staatlichen Eingriffe über Nacht auf einmal möglich sind. Aber sie sind notwendig. Es ist ja auch nicht so, dass von heute auf morgen 480 Milliarden fällig werden, sondern es wird eine Garantie übernommen für eine theoretisch hochgerechnete Risiko-Summe. Von unserer 21-Milliarden-Bürgschaft in Berlin ist auch nur ein kleinerer Teil letztendlich zahlungspflichtig geworden.
In den heftigen SPD-Krisentagen hatte man den Eindruck, die Partei ist dabei, ihre Zukunft zu verspielen. Hat Sie auch mal der Gedanke beschlichen, dass die LINKE womöglich den Part übernimmt?
Manchmal hätte man schon heulen können. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten Chancen verspielt, den Leuten zu erklären, was die SPD will, obwohl wir die richtigen Themen und Antworten haben. Dennoch: Die LINKE wird nicht die Partei sein, die das alles einsammelt. Auch wenn es sein kann, dass die LINKE kurzfristig profitiert. Grundsätzlich ist es aber für unser Parteiensystem ein Problem, wenn die großen Volksparteien nicht auch große Wählerschichten erreichen. Es besteht sonst die Gefahr, dass die Menschen gar nicht zur Wahl gehen.
In Thüringen und im Saarland wird 2009 gewählt. Klar ist, dass beide CDU-Alleinregierungen nur unter Einbeziehung der LINKEN abgelöst werden können. Wird sich die SPD jedes Mal neu zerlegen?
Wir machen es in Berlin vor, wie es gehen kann mit Rot-Rot. Warum nicht auch im Saarland oder in Thüringen? Wenn Personen und Inhalte stimmen, bitte sehr. Entscheidend ist aber, mit welcher Haltung man in die Wahlauseinandersetzung geht. Ich hoffe sehr, dass die Sozialdemokraten schon vor der Wahl deutlich machen, dass sie sich dieser Möglichkeit nicht grundsätzlich verschließen. Das war ja in Hessen anders. Aber wir müssen auch akzeptieren, dass im Westen erst eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit der LINKEN wachsen muss, die es bei uns schon seit 20 Jahren gibt.
Sie halten die SPD für lernfähig?
Aber ja doch.
Fragen: Gabriele Oertel