Karl Nolle, MdL

spiegel.online, 22.03.2009

GEFÄLSCHTE "ZEIT"

Mit freundlichen Grüßen von Attac
 
Wo bleibt denn das Positive in den Nachrichten? Am Samstag kam es geballt: Opel in Arbeiterhand, Afghanistankrieg und Casinokapitalismus passé - die "Zeit" verwöhnte ihre Leser mit lauter schmusigen Botschaften. Hinter der geglückten Parodie stecken Globalisierungsgegner.

Das Erscheinungsdatum 1. Mai 2010 im Zeitungskopf kann aufmerksame Leser stutzig machen, auch der Sozialpreis ("weltweit 0 Euro"), aber sonst... Aber sonst sieht diese Ausgabe der "Zeit", wie sie am Samstag rund 150.000-fach in deutschen Städten verteilt wurde, ganz so aus, wie die Wochenzeitung immer aussieht: die gleiche Gestaltung mit der gleichen Schrifttype, das übliche großformatige Bild auf der ersten Seite, ein sorgfältig komponiertes Layout.

Das wirkt täuschend echt, und genau das war die Absicht des globalisierungskritischen Netzwerks Attac: Fiktive "Nachrichten der Zukunft" sollen den Aufbruch in eine neue Zeit signalisieren, in der scheinbar unlösbare Probleme gelöst werden. Dafür hat Attac die ehrwürdige Wochenzeitung gekapert. "Auf diese Weise wollen wir die Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser erweitern und ihnen Mut machen, sich politisch zu engagieren", heißt es in einer Mitteilung von Attac.

Also enthält die Fake-"Zeit" nichts als frohe Botschaften aus einer Welt, wie sie Attac-Aktivisten weit besser gefiele als die zum Frühlingsauftakt 2009 real verfügbare: Auf der Titelseite vom 1. Mai 2010 ist Opel nach dem Bankrott von General Motors bereits in der Hand der Belegschaft. Sie hat das Unternehmen für einen symbolischen Dollar gekauft, genossenschaftlich ein neues Konzept entwickelt - und lässt jetzt umweltfreundliche Nahverkehrs-Triebwagen vom Band laufen. Dafür wirbt Opel auch in einer natürlich ebenso gefälschten Anzeige. Andere Lieblingsfeinde der Linken trommeln ebenfalls für ihre Anliegen: die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Nescafé ("Ich war ein Schaumschläger"), Privatkliniken ("Wir wollen nur Ihr Bestes: Ihr Geld").

Jetzt ist aber mal Schluss mit dem Casinokapitalismus

Weitere Texte analysieren das Ende der Nato und des Afghanistankrieges, ein Gesetzespaket gegen Lobbyisten, eine Klagewelle gegen Klimasünder. Der Journalist und Buchautor Harald Schumann berichtet von einem imaginären G-20-Treffen in Brasilia, bei dem sich Industrie- und Schwellenländer auf eine weitreichende Besteuerung großer Privatvermögen und internationaler Konzerne geeinigt haben ("Zeit der Abrechnung"). Der Wirtschaftsjournalist Lucas Zeise beschreibt den Untergang und die Verstaatlichung zahlreicher Privatbanken, der Kabarettist Matthias Deutschmann das Ende des "Casinokapitalismus".

Manches davon wirkt etwas hölzern und allzu brav am Attac-Themenkanon orientiert, zu frei von wirklich überraschenden Ideen. Dennoch ist den Aktivisten ein schöner Coup gelungen: Rund 150.000 Exemplare der gefälschten "Zeit"-Ausgabe werden am Samstag nach Attac-Angaben in 90 Städten von Flensburg bei Freiburg verteilt.

Attac entwickelte indes keinen kostspieligen Ehrgeiz, auch den Umfang der echten "Zeit" zu imitieren - die liegt mit voluminösen 82 Seiten der aktuellen Ausgabe gewohnt schwer in der Hand, die "Zeit"-Simulanten kamen mit schlanken acht Seiten aus, in einem etwas kleineren Format. Dafür haben sie sich gleich auch "Zeit online" vorgeknöpft und die Originalseite unter www.die-zeit.net ebenfalls bis ins Detail nachempfunden, dort kann man die Zeitung im PDF-Format herunterladen.

Prominente Vorläufer: "All the news we hope to print"

Erfunden hat Attac die Aktion nicht selbst, sondern sich Inspiration geholt bei der amerikanischen Gruppe "The Yes-Men" (dazu mehr auf SPIEGEL WISSEN...). Sie hatte im November 2008 eine gefälschte "New York Times" veröffentlicht. Aus dem guten alten Zeitungsmotto "All the News That's Fit to Print" wurde dabei "All the News We Hope to Print": Die Kriege sind vorbei, George W. Bush wird wegen Hochverrats angeklagt und Guantanamo geschlossen, Condi Rice outet sich als Lügnerin. Als Datum wählten die Aktionskünstler den Nationalfeiertag 4. Juli 2009. Es war ein gigantisches Projekt mit sechs Monaten Vorbereitungszeit und einer Auflage von satten 1,2 Millionen Exemplaren.

Die Idee, mit gefälschten Nachricht die Zukunft umzugestalten und so die Wirklichkeit umzudeuten, ist nicht direkt neu. In der DDR zum Beispiel wurde am 19. März 1988 eine Ausgabe des Zentralorgans "Neues Deutschland" unters Volk gebracht, die es in sich hatte. Das sonst so staubtrockene SED-Blatt quoll plötzlich über vor lauter spektakulären Botschaften: die Stasi aufgelöst, Karl-Eduard von Schnitzler mit seinem "Schwarzen Kanal" im Exil, Amnestie für politische Häftlinge, ab sofort Pressefreiheit - Glasnost und Perestroika allenthalben.

Ganz vorn auf dem Titel schwärmte Erich Honecker von einem "liebenswerten Sozialismus", und im Innenteil berichtete "Neues Deutschland" über Eislaufstar Katharina Witt, die alle Hüllen habe fallen lassen - im neuen Magazin "Spielmann", einer DDR-Lizenzausgabe des "Playboy". Ersonnen und ins Land geschmuggelt hatte das die Redaktion der (West-) Zeitschrift "Tempo".

Original will nicht gegen die Fälschung klagen

Die Attac-Aktion hatte also Vorläufer und soll ebenfalls den Weg in eine sonnigere politische Zukunft erahnen lassen. "Wir schreiben aber kein Paradies herbei", sagt Attac-Mitgründerin Jutta Sundermann, "alles, was in den Artikeln beschrieben wird, könnte man innerhalb von 13 Monaten umsetzen." Ziel sei es, Lesern Mut zum politischen Engagement zu machen: "Wir haben deshalb die Zeit weitergedreht und die Nachrichten verfasst, die wir morgen lesen wollen - über konkrete Verbesserungen, die denkbar und erstreitbar sind."

Der "Zeit"-Verlag reagierte moderat, wenngleich leicht säuerlich. "Eine Fälschung der 'Zeit', Print wie Online, können wir natürlich niemals billigen - insbesondere nicht in dieser guten Qualität", sagte Chefredakteur Giovanni di Lorenzo. "Dass Attac gerade 'Die Zeit' ausgesucht hat, um diese Aktion zu starten, verwundert allerdings nicht. Schließlich gibt es keine größere überregionale Qualitätszeitung."

Eine Verlagssprecherin ergänzte, man sei von der Aktion überrascht worden, schließe aber rechtliche Schritte gegen Attac aus. Di Lorenzo sagte weiter: "Am meisten staune ich über den großen Aufwand, den man sich hier geleistet hat. Schön, dass es wenigstens Attac in der Krise noch gut geht." Auch Wolfgang Blau, Chefredakteur von "Zeit online", zeigte sich in einer Stellungnahme "beeindruckt von der Qualität der Kopien". Nach seinen Angaben soll das Plagiat am Montag auch der Zeitung "taz" beiliegen.

Andere Hinweise, warum die Aktivisten sich für ihre mediale Piraterie die "Zeit" ausgeguckt haben, liefert die zweite Seite der Fake-Ausgabe: Es liegt nicht allein an der charakteristischen, also leicht wiedererkennbaren Gestaltung des Originals, sondern auch an der traditionell eher staatstragenden Haltung. Die "Zeit"-Redaktion habe sich "doch mehr als Teil der Macht verstanden denn als ihr kritischer Gegenpart", heißt es im Editorial zum Selbstverständnis; man sei in zahlreichen Elitezirkeln vertreten, gewissermaßen als "embedded journalists".

Das schreibt ein "Matthias Trocken" - im richtigen Leben heißt der stellvertretende Chefredakteur der "Zeit" Matthias Naß.

Mit Material von dpa und AP
Von Jochen Leffers
Gefälschte Zeit im Netz und zum Runterladen

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: