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spiegel online, 15:57 Uhr, 27.06.2015

Modellstadt der SPD - Die Tragödie von Freital

 
Freital steht heute für braune Hetze gegen Flüchtlinge. Dabei entstand der sächsische Ort einst als linkes Gemeinschaftsmodell in der kapitalistischen Weimarer Republik. Ein Lehrstück über die Tragödien der großen Ideologien.
Von Franz Walter

"Freital wehrt sich" - mit Eiern, Böllern und Pöbeleien gegen Asylbewerber. Mit solchen "Frigida-Parolen" lenkt die ostsächsische Stadt, in unmittelbarer Nähe von Dresden gelegen, in diesen Tagen große Aufmerksamkeit und scharfe Kritik auf sich. Justizminister Heiko Maas verurteilt den Aufruhr vor der Freitaler Asylunterkunft. Innenminister Thomas de Maizière stellt sich einer erregten Bürgerversammlung. Auch der scheidende Bischof des Bistums, Heiner Koch, rügt entschieden die aggressiven Attacken auf verängstigte Flüchtlinge. Freital - die Stadt, in der Lutz Bachmann lebt und agiert. Der Gründer und Anführer von Pegida mischt natürlich auch mit bei den Demonstrationen gegen das Flüchtlingsheim.

Dabei gab es Jahrzehnte, da war Freital wegen ganz anderer Qualitäten deutschlandweit berühmt. Doch ist dieses Renommee mittlerweile gänzlich verblasst, ist selbst in Freital im rauen Wechsel der politischen Systeme des 20. Jahrhunderts zerronnen und vergessen. Insofern bietet Freital ein eindrucksvolles Lehrstück für die Hoffnungen und Tragödien der deutschen Geschichte in jenem Jahrhundert der großen Ideologien.

Freital existiert erst seit 1921. Die Stadtgründung zu Beginn der Weimarer Republik entsprang einer sozialdemokratischen Initiative. Zur neuen städtischen Kommune vereinten sich seinerzeit drei Industriegemeinden, in denen die SPD mehr als zwei Drittel der Wähler auf sich vereinte. Und diese Zweidrittelmehrheit schuf sich eine Stadt, die "frei" sein sollte von "Ausbeutung und Unterdrückung", daher eben der Name: Freital.

Die Kontrahenten von rechts haben diese Stadtgründung über Jahre heftig bekämpft, sprachen abschätzig von "Liebknechthausen". Die Genossen indes waren in jenen Jahren ungemein stolz darauf, sich ihre eigene Kommune erfunden zu haben. Stadt und sozialistische Arbeiterbewegung verschmolzen während der Zwanzigerjahre miteinander, wurden in einer Weise eins, die in Deutschland ansonsten beispiellos blieb. Sie war die einzige Stadt im "roten Sachsen" mit einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister, mit absoluten Mehrheiten bei Wahlen, mit einer sonst nie erreichten hohen Mitgliederquote der SPD.

"Rotes Wien in Sachsen"

Nun waren rot wählende Städte keine ganz außergewöhnliche Rarität im industriegesellschaftlichen Deutschland. Doch hatte sich hier eine in der Gemeinde fest verwurzelte kommunalpolitische Elite herausgebildet, die den Ehrgeiz besaß, die eigene Stadt zum weithin ausstrahlenden Modell zu machen, zunächst für Sachsen, schließlich für Deutschland insgesamt. An etlichen Stellen der Stadt errichteten die sozialdemokratischen Stadtväter Siedlungen. Das betrieben sie so massiv, dass man Freital in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre als "Rotes Wien in Sachsen" etikettierte - in Anspielung an die modellhafte Bautätigkeit der sozialistischen Gemeindespitze in der österreichischen Hauptstadt.

Doch der Ehrgeiz, aus Freital eine Musterkommune des Gemeindesozialismus zu machen, ging weiter. Freital sollte zur Wohlfahrtsinsel im trüben kapitalistischen Gewässer der Weimarer Republik werden. Die Stadt war eine veritable Oase für die Verlorenen und Gestrandeten der Gesellschaft, für Arbeitslose, für ledige Mütter, für Kleinrentner - und vor allem für Kranke. Die Gesundheitspolitik bildete das Herzstück des Freitaler Kommunalsozialismus. Schon unmittelbar nach der Stadtgründung hatten die sozialistischen Rathausstrategen eine Gruppe frisch approbierter, links orientierter Ärzte in die Industriestadt geholt. Und die bekamen in Freital freie Bahn, um all die sozialistischen Schwärmereien aus der Studentenzeit dem Realitätstest auszusetzen.

Der kommunale Sozialismus gab der Stadt in jenen Jahren Zusammenhalt, ein geradezu herausragendes Selbst- und Sendungsbewusstsein. Der Höhepunkt kam im Jahr 1927, als eine Delegation des Genfer Völkerbunds in der Stadt auftauchte, um das Freitaler Modell studieren und bewundern zu können.

Mit der SED begann die Tragödie von Freital

An den Nationalsozialisten ging das Rote in Freital auch zwischen 1933 und 1945 nicht zugrunde. Kaum waren die Nazis fort, erschienen die Sozialdemokraten wieder vollständig auf der politischen Bühne. Binnen weniger Monate schlossen sich weit über 3000 Freitaler der wiedergegründeten SPD an.

Erst mit der SED begann der Niedergang der sozialdemokratischen Tradition. Am Ende der DDR war von der großen gemeindesozialistischen Idee der Stadt nichts mehr übrig. Selbst die Erinnerungen daran waren komplett ausgelöscht. Einen derartig fundamentalen politischen Mentalitätswechsel in der Bevölkerung wie hier kann man in den modernen europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts wohl kein zweites Mal beobachten. In Freital hatten sich die meisten der dort lebenden Menschen über mehrere Jahrzehnte, vom Kaiserreich bis zur frühen Sowjetischen Besatzungszone, alles Heil vom Sozialismus versprochen. Und als der Sozialismus dann in Gestalt der SED über sie hereinbrach, reagierten sie bald bitter enttäuscht.

Die Verdrossenheit über den Realsozialismus übersetzte sich in Freital in Distanz und Abschied von den alten sozialdemokratischen Neigungen. Denn ein spezifischer sozialdemokratischer Antikommunismus war unter den Bedingungen der Diktatur, die sich der gleichen Rituale und Parolen bediente wie einst die sozialdemokratischen Lebenswelten, nicht organisierbar und tradierbar. So individualisierte die sozialdemokratische Gesinnung, blieb verborgene Privatmeinung von Einzelnen, verlor den so wichtigen sozialdemokratischen Movens der Kollektivität, starb schließlich mit ihren Trägern im Laufe der Sechziger- und Siebzigerjahre final weg.

Als dann 1989 die DDR zerbrach, waren alle früheren sozialdemokratischen Einstellungen, Orientierungen, Kulturen aus dem Tal verschwunden. Es existierte nichts mehr, woran eine neu gegründete Sozialdemokratie hätte anknüpfen können. Als die kleine Truppe der neuen Freitaler Sozialdemokratie - zwanzig etwa - Anfang 1990 ihren ersten Wahlkampfstand in der Stadt aufstellte, wurde sie ausgebuht, angepöbelt, als "rote Schweine" beschimpft. Der Ausgang der ersten freien Wahlen nach etlichen Jahrzehnten zur Volkskammer im März 1990, wurde dann zum Desaster, gleichsam zum historischen Menetekel für die Sozialdemokratie in Freital. 9,8 Prozent der Stimmen bekam die SPD hier in ihrer früheren Hochburg, die nunmehr zum traurigen Diasporagebiet der Nach-Willy Brandt-Partei wurde.

Freital war zu einer nahezu entstrukturierten, enthistorisierten Stadt geworden. Im politisch-kulturellen Vakuum öffnete sich sodann der Raum für Kleinstadtpopulisten, die in Freital nach 1990 periodisch auftraten, kühne Versprechungen machten, dann überwiegend nach allerlei Pannen und Pleiten wieder im Nichts verschwanden, um von neuen Figuren dieser Couleur ersetzt zu werden. Und nun also geht es gegen Flüchtlinge in dieser Stadt, die doch in ihren Ursprüngen ein ganz entgegengesetztes Projekt verfolgt hatte. Was für eine Tragödie.