Karl Nolle, MdL

sueddeutsche.de, 13.08.2009

Interview mit Norbert Blüm: "Hartz ist Pfusch"

Interview: Oliver Das Gupta
 

Norbert Blüm, Jahrgang 1935, ist gelernter Werkzeugmacher. Über das Abendgymnasium holte er das Abitur nach, studierte Philosophie, Germanistik, Geschichte und Theologie. Die Promotion in Philosophie folgte. Seit 59 Jahren ist er in der CDU, doch erst spät begann sein Aufstieg - über die Arbeitnehmerorganisation in der Partei. 1972 wurde er Bundestagsabgeordneter. Blüm war Landeschef der CDU von Nordrhein-Westfalen, Berliner Senator für Bundesangelegenheiten und nahm zwischen 1982 und 1998 das Amt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung wahr. Als einziger Minister war er in allen Kabinetten von Bundeskanzler Helmut Kohl vertreten. Nach dem Abschied von der Macht überwarf er sich aber in der Parteispendenaffäre mit dem einstigen Parteichef. Blüm lebt mit seiner Frau nahe des alten Regierungsviertels in Bonn. Im Haus der Blüms fand das Gespräch mit sueddeutsche.de statt.

sueddeutsche.de: Herr Blüm, die Umfragen deuten auf einen klaren Sieg der Union bei der Bundestagswahl am 27. September hin. Freuen Sie sich auf den Herbst?

Norbert Blüm: Natürlich freue ich mich, wenn die CDU gewinnt. Aber wichtiger ist mir, was meine Partei daraus macht.

sueddeutsche.de: Es läuft auf eine Koalition aus Union und FDP hinaus - ist das auch Ihre Wunschkonstellation?

Blüm: Da bin ich hin- und hergerissen.

sueddeutsche.de: Warum?

Blüm: Ich hoffe, dass die FDP ihre neoliberale Zwischenphase überwunden hat. Eine große Koalition - und das ist ja die realistische Alternative - ist nun mal keine schöne Variante. Sie bedeutet immer eine schwache Opposition, und das ist schlecht für die parlamentarische Demokratie.

sueddeutsche.de: FDP-Chef Guido Westerwelle wettert immer wieder gegen eine sozialdemokratisierte Union.

Blüm: Das macht die FDP, seitdem es sie gibt, auch zu meiner aktiven Zeit. Trotzdem haben wir zwischen 1982 und 1998 eine relativ vernünftige Sozialpolitik gemacht. Darum: Zu einer schwarz-gelben Koalition gehört eine CDU, die sich nicht als FDP in anderem Gewand versteht. Zur Tradition der CDU gehört die christliche Soziallehre - wenn die CDU das vergessen sollte, ist sie ganz schnell weg vom Fenster. Auch ein großer Wahlsieg schützt nicht davor, etwas Essentielles zu verspielen. In Europa gibt es christlich-demokratische Parteien, die fast über Nacht verschwunden sind.

sueddeutsche.de: Union und FDP könnten ab Herbst eine Politik umsetzen, die die CDU unter Angela Merkel bei ihrem Leipziger Parteitag 2004 beschlossen hat: Sozialreformen vorantreiben.

Blüm: Das Leipziger Programm war kein Hit. Aber die beste Pfadfindertruppe verheddert sich mal im Gestrüpp. Wichtig ist, dass sie die Orientierung wiederfindet. Im Übrigen: Zwischen damals und heute liegt ja eine Bundestagswahl, aus der meine Partei hoffentlich ihre Lehren gezogen hat.

sueddeutsche.de: Wenn es bei der Wahl 2005 für Schwarz-Gelb gereicht hätte, wären die Leipziger Beschlüsse wohl umgesetzt worden.

Blüm: Das ist ja, Gott sei Dank, nicht geschehen. Sonst hätte die CDU jenes hirnrissige Kopfpauschalenmodell durchsetzen müssen. Da hätte nämlich der Chef dieselbe Prämie gezahlt wie sein Chauffeur. Das kann niemand als Ausdruck von Gerechtigkeit erklären.

sueddeutsche.de: Statt der Kopfpauschale wurde Anfang 2009 der Gesundheitsfonds eingeführt - sind Sie damit eher zufrieden?

Blüm: Was wir jetzt haben, ist ein Kompromiss zwischen Regenwurm und Igel: Stacheldraht. Dieses Modell wird die nächsten zehn Jahre nicht überleben, da bin ich bereit zu wetten. Das ist Murks hoch zwei. Der Gesundheitsfonds bedeutet mehr Staat, und der Zusatzbeitrag löst einen Wettbewerb um die Gesunden aus. Im christlichen Verständnis gilt Subsidiarität, also Vorfahrt für die nichtstaatliche Lösung und Solidarität. Also: Der Starke hilft dem Schwachen. Ohne diesen Grundsatz wären wir nicht aus dem Neandertal herausgekommen. Wir wären darin erfroren.

sueddeutsche.de: Gegen das Motto "Der Starke hilft dem Schwachen" steht der Satz: "Jeder sorgt für sich selbst".

Blüm: Wenn es einen Nobelpreis für politische Dummheit gäbe, würde ich den Erfinder dieses Slogans dafür vorschlagen.

sueddeutsche.de: Auch in der CDU glauben viele, Vater Staat kümmere sich um zu viel, und lasse den Menschen zu wenig Freiheit. Wurmt sie das?

Blüm: Solidarität ist kein staatliches Monopol. Selbstverantwortung übersetzen die Liberalen mit Privatisierung. Dazwischen liegen die Lösungen. Zugegeben, diesem jungliberalen Kampfmotto "Jeder sorgt für sich selbst" eifern auch junge Unionisten nach. Aber es ist ein Irrtum. Ich habe noch kein Kind gesehen, das sich selbst versorgt. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir als Menschen in Gemeinschaftspflichten. Zum Glück sind die Zeiten vorbei, in denen unsere Kanzlerin Gerechtigkeit als "Verlässlichkeit" verniedlicht hat. Verlässlich ist die Mafia auch.

sueddeutsche.de: Zu den staatlichen Leistungen in Deutschland zählt Hartz IV, ein umstrittenes Kernstück der Agenda 2010 Gerhard Schröders. Wie stehen Sie dazu?

Blüm: Inzwischen gilt: Nur wenn du arm bist, wird dir geholfen - du musst es nur erstmal beweisen. Das hat zur Folge, dass der Sozialstaat zum Überwachungsstaat ungebaut wurde, ein Staat mit vielen Formularen. Das widerspricht meinem Gerechtigkeitsverständnis. Wenn einer ein Leben lang gearbeitet hat, soll er eine anständige Rente erhalten und nicht gefragt werden, ob er ein Haus hat oder keins. Und wenn er ein Leben lang Arbeitslosenversicherungsbeiträge gezahlt hat, muss er lange Arbeitslosengeld erhalten - Basta!

sueddeutsche.de: Bei Hartz IV wird immer wieder nachjustiert. Zuletzt wollte Arbeitsminister Olaf Scholz das Schonvermögen korrigieren. Ist die Reform reformierbar?

Blüm: Nein, das wird nicht mehr gut. Hartz ist Pfusch. Und Pfusch kann nicht repariert werden. Mit einem Auto, dessen Motor permanent repariert wird, würde ich nicht fahren.

sueddeutsche.de: Ist wirklich alles Pfusch bei den Hartz-Reformen?

Blüm: Richtig war, Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung zusammenzulegen. Es handelt sich um Fürsorgeleistungen, die nicht auf Beiträgen basieren. Hierfür muss nicht das vorgelagerte Sozialversicherungssystem zerstört werden. Doch das haben die Verantwortlichen getan. Deshalb fallen immer mehr Menschen in die Grundsicherung - und die Regierung kommt pausenlos in Schwierigkeiten. Wenn sie nun beim Schonvermögen nachbessert, fragt der nächste Sozialhilfeempfänger, wieso sein Haus nicht berücksichtigt werde, wohl aber die beim Allianz-Konzern abgeschlossene Riester-Rente.

sueddeutsche.de: Können Sie der Riester-Rente, die nach ihrem Nachfolger im Arbeitsministerium, Walter Riester, benannt wurde, etwas abgewinnen?

Blüm: Da hat Rot-Grün ein wahres Kunststück abgeliefert: Mit der Riester-Reform haben sie es geschafft, den Jüngeren höhere Beiträge zuzumuten und dafür geringere Leistungen zu bieten.

sueddeutsche.de: Das müssen Sie genauer erklären.

Blüm: Die Riester-Reform führt mit Hilfe des Riester-Faktors zu einem Absenken des Rentenniveaus - also auch für diejenigen, die gar keine Riester-Rente abschließen. Die werden schon 2020 unter einem Niveau sein, das sie mit der alten Rentenversicherung alleine erreicht hätten. Aber diese junge Generation wird 2030 trotz niedrigerem Gesamtniveau - Riester plus Rente - mehr zahlen müssen. Bei der alten Blümschen Rentenreform gab es ein Rentenniveau von 64 Prozent, dafür mussten die Bürger zwischen 24 und 25 Prozent zahlen. Die Erfinder der Riester-Rente haben gesagt: Nicht höher als 22 Prozent. Da schreien viele "Hurra" - und übersehen dabei, dass sie noch mal vier Prozent für die Riesterrente zahlen müssen. Und, bitte nicht vergessen: Der Riester-Beitrag wird nur von den Arbeitnehmern gezahlt. Gewonnen haben dabei nur Allianz & Co. sowie die Arbeitgeber.

Blüm: Der Aufschrei der Rentenversicherer bleibt aus, weil in deren Selbstverwaltung die Arbeitgeber sitzen. Und die haben ein Interesse an einem Schmalkost-Sozialstaat. Und die Gewerkschaften waren gehemmt, weil ihre SPD-Genossen das vorangetrieben haben.

sueddeutsche.de: Derzeit steht die deutsche Sozialdemokratie so schlecht da wie nie in der bundesrepublikanischen Geschichte. Haben Sie Mitleid?

Blüm: Das ist schon etwas traurig. Die SPD ist ausgebrannt. Sie hat nach Gründung der Grünen einen zweiten Aderlass durch die Agenda 2010 und das dadurch bedingte Entstehen der Linkspartei erlitten.

sueddeutsche.de: Die Linke macht sich für mehr Sozialstaat stark. Finden Sie gut, was Oskar Lafontaine und seine Partei fordern?

Blüm: Es geht nicht um mehr oder weniger Sozialstaat, sondern um den gerechten.

sueddeutsche.de: Die Parteien im Bundestag - die Linke ausgenommen - haben die Sozialreformen der Regierung Schröder mehr oder weniger unterstützt. Warum hört man so selten Selbstkritik?

Blüm: Nach dem neoliberalen Rausch befinden wir uns in der Kater-Phase, da ist der Kopf noch nicht ganz klar. Es ist ein Zustand großer Verlegenheit.

sueddeutsche.de: Eine unionsgeführte Regierung trägt inzwischen sogar die Verstaatlichung einer Bank mit. Befindet sich die deutsche Politik nicht schon mitten in der Veränderung?

Blüm: Bislang stehen vor allem zwei Alternativen zur Debatte: Verstaatlichung oder Privatisierung. Das ist banal.

sueddeutsche.de: Haben Sie einen anderen Vorschlag?

Blüm: Die Lösung könnte darin liegen, dass man mehr auf genossenschaftliche Organisation setzt. Auf eine Sozialversicherung, die sich selbst steuert. Der Staat lässt seine Hände draußen - etwas besseres kann der Rentenversicherung nicht passieren. Die Versicherten sollen selber entscheiden können, für wie viel Geld sie wie viel Absicherung brauchen. Das ist der Vorteil des Beitragssystems gegenüber dem Steuersystem. Auf jeden Fall ist das Privatisieren keine Lösung - im Gegenteil: Das frisst uns auf.

sueddeutsche.de: Wie meinen Sie das?

Blüm: Nach einer Privatisierung würden die Sozialversicherungsnehmer mit ihren Geldern Hedgefonds füttern. Die großen Pensionsfonds, das sind die Auftraggeber der Hedgefonds. Unternehmen an sich sind denen egal, Wertschöpfung ist denen schnuppe, die machen reine Kursspiele. Es geht nur um Geld, Geld und nochmal Geld. Wir bezahlen also unsere eigenen Metzger mit der Privatisierung. Wir füttern die Pensionsfonds, die weltweit die Troublemaker sind.

sueddeutsche.de: Franz Müntefering sprach von "Heuschrecken".

Blüm: Das ist ein zutreffendes Bild, fast zu niedlich. Wenn es gelingt, nur zehn Prozent der Gelder in der staatlichen Rentenversicherung umzuleiten auf die Mühlen der Privatversicherer, haben die rund 20 Milliarden Euro über Nacht mehr. Damit kann man unter anderem schöne große Anzeigen in der Bild-Zeitung schalten. Die schreibt auch die richtigen Kommentare dazu.

sueddeutsche.de: Zurück zur Krise: Managt die große Koalition in Berlin die Krise gut?

Blüm: Als Feuerwehrübung kann man das so machen. Es ist wie bei einer Notoperation: Zuerst muss man dafür sorgen, dass der Patient erst mal überlebt. Strukturierte Lösungen brauchen mehr Zeit. Die Regierung muss einen wild gewordenen Finanzkapitalismus bändigen. Kapital muss wieder an Arbeit gebunden werden, nicht an Spekulation.

sueddeutsche.de: Was soll konkret passieren?

Blüm: Sich auf alte, vermeintliche Ladenhüter besinnen: Zum Beispiel, indem man Arbeitnehmer an Unternehmen beteiligt. Ich glaube, dass sich erfolgreiche Manager der Zukunft nicht nur nach Börsenkursen richten müssen, sondern wieder nach der Arbeit der Menschen. Das, was sich bei Konzernen wie Schaeffler abspielt, ist Ausdruck dafür, wie sehr sich die Chefs von der Arbeitswelt abgekoppelt haben. Die gucken nur noch auf den Börsenkurs, auf das Geld, auf Wachstum. Der Wert der Arbeit wird nicht mehr gewürdigt von diesen Managern.

sueddeutsche.de: Wie sieht ihre Sozial-Prognose für Deutschland aus?

Blüm: Millionen leben heute schon an der Armutsgrenze. Und sie werden sich mehren, gerade durch die Altersarmut. Das Rentenniveau wird in ein paar Jahren absinken in die Nachbarschaft der Sozialhilfe. Wenn das einen bestimmten Umfang überschritten hat, werden die Leute fragen: Wozu brauchen wir die Sozialversicherung?

sueddeutsche.de: Ist der soziale Friede in Gefahr?

Blüm: Es steht nirgendwo geschrieben, dass es so friedlich weitergeht. Man soll jedoch den Teufel nicht an die Wand malen...

sueddeutsche.de: Die Bundespräsidentenkandidatin der SPD, Gesine Schwan, warnte beispielsweise vor sozialen Unruhen...

Blüm: ... und wurde gleich dafür angepfiffen.

sueddeutsche.de: Finden Sie, dass man hierzulande dieses Thema tabuisiert?

Blüm: Ja, leider. Ich sag doch nicht, dass ich mir Unruhen wünsche. Aber man muss sich doch mal mit den Realitäten auseinandersetzen. Es kann sein, dass sich Machtzentren verschieben und wir, im Westen, 500 Jahre durch die Wüste müssen, während die Musik derweil woanders spielt. Rom ist implodiert durch die eigene Dekadenz - und nun implodiert der entfesselte Kapitalismus.

sueddeutsche.de: Sie klingen sehr pessimistisch.

Blüm: Ich mache mir nichts vor. Man muss kein Mystiker sein, um zu erkennen, dass sich die Welt gerade häutet. Die Führungsmacht USA, der Konzertmeister der Weltwirtschaft, lebt auf Pump von China und von den Staaten der arabischen Welt. Ich bin kein Angstmensch, aber wir bewegen uns auf einem sehr dünnen Seil.

sueddeutsche.de: Ist in dieser Krisenzeit nicht Brüssel stärker denn je gefragt?

Blüm: Eigentlich schon. Aber zugleich ist die EU-Kommission schwächer denn je. Kommissionschef Manuel Barroso ist, verglichen mit seinen Vorgängern, ein Frühstücksdirektor.

sueddeutsche.de: Herr Blüm, befürworten Sie Mindestlöhne?

Blüm: Ja, als zweitbeste Lösung. Sie sind dort sinnvoll, wo die Tarifautonomie nicht funktioniert. Dort, wo Tarifverträge kaputtgeredet werden von den Herren der Arbeitgeber, wo die Reden der Kampfgemeinschaft Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft wirken. Diese Leute bewirken eigentlich das Gegenteil von dem, was sie wollen: Die Entstaatlicher kehren als Verstaatlicher zurück.

sueddeutsche.de: Also eine Renaissance des Staates.

Blüm: Eine Renaissance der Solidarität! Eigentlich stehen nur ein paar uralte Weisheiten zur Debatte: Der Schwache hilft den Schwachen. Oder: Die Jungen finanzieren die Alten. Da können Sie die Rentenversicherung organisieren wie sie wollen, da kann regieren wer will: Immer werden die Jungen die Alten finanzieren. Selbst die Kapitaldeckung funktioniert so - obwohl sie den Menschen vorheuchelt, sie würden irgendetwas zurücklegen, was später rausgeholt wird. Es wird immer nur der Kuchen gegessen, der jetzt gebacken wird. Den Kuchen backen die Jungen.

sueddeutsche.de: Und wenn weniger Menschen in Deutschland geboren werden?

Blüm: Dann werden die Jungen mehr von dem Kuchen abgeben müssen - egal, wie das System heißt. Sie können allerdings dafür sorgen, dass es der Wirtschaft gut geht. Dann ist der Kuchen größer.

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