Karl Nolle, MdL

Neues Deutschland ND/15.08.2009 / Forum / Seite 22, 21.08.2009

Eine Frage der Glaubwürdigkeit - Gerhard Fischer und Sebastian Stude im Interview

Über Bekenntnisse, Wende, Wandel und Enttäuschungen
 
Die DDR entlässt die Christdemokraten nicht. Ostdeutsche CDU-Mitglieder holt ihre Vergangenheit immer wieder ein. Die Partei selbst hat offenbar Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Warum? Darüber diskutierten Professor Gerhard Fischer und Sebastian Stude im Domizil des Berliner Vereins Helle Panke unter der Moderation der ND-Redakteurin Karlen Vesper. Fischer, Jg. 1930, seit 1946 Mitglied der CDU und zu DDR-Zeiten in deren zentralen Führungsgremien tätig, arbeitet derzeit an einer Neuauflage seiner 1985 erschienenen Geschichte über die Hugenotten in Berlin. Stude, Jg. 1979, studierte Geschichte in Halle und veröffentlichte jetzt eine Studie über »Die CDU in der späten DDR« (60 S., 3 €, zu beziehen über Helle Panke, Tel.: 030/47 53 87 27) sowie eine Arbeit über »Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle/Saale« (Peter Lang Verlag, 209 S., 29,80 €).

Herr Stude, Sie haben sich mit der Geschichte der CDU in der DDR befasst. Zu welchem Fazit sind Sie gekommen?

Stude: Die CDU war bis in das Jahr 1989 hinein eine zentralistisch aufgebaute Partei, die sich dem Führungsanspruch der SED unterordnen musste und dies auch tat. Sie war eine Partei im Sozialismus und in der DDR. Die CDU beteiligte sich bis in den Oktober '89 aktiv an der Inszenierung der SED-Diktatur. Die Mitglieder des CDU-Apparates bedienten sich der offiziösen Sprache und sie nutzten, wenn nicht die gleichen, so doch sehr ähnliche Symbole und Rituale wie die SED-Führung.

Gleichzeitig war die CDU eine Partei des punktuellen Widerspruchs gegenüber der Politik der SED-Führung, aber keinesfalls des politischen Widerstandes. Sie war keine monolithische Institution, die vielseitigen Interessen und Meinungen der CDU-Mitglieder traten aber erst nach der Entmachtung des langjährigen Parteivorsitzenden Gerald Götting am 2. November 1989 zu Tage.

Was sagt Herr Fischer dazu?

Fischer: Wo Herr Stude Recht hat, hat er Recht.

Hat sich die CDU freiwillig und gern der SED unterworfen?

Stude: Man muss bedenken, die SED war die bei Weitem stärkste Partei, zählte 1989 über zwei Millionen Mitglieder und Kandidaten. Zum politischen System der DDR gehörte der Demokratische Block, in dem alle Parteien organisiert waren. Die SED gab den Ton an. Offizielle Sprachregelung war: »befreundete Parteien«. Im ZK der SED gab es die Abteilung »Befreundete Parteien«, die die anderen kontrollierte und anleitete.

Herr Fischer, wurden auch Sie angeleitet und kontrolliert?

Fischer: Die Abteilung »Befreundete Parteien« im ZK der SED war 1952 im Zusammenhang mit der II. Parteikonferenz der SED gebildet worden. Ich hatte über lange Zeit die Kontakte zu dieser Abteilung zu halten. Ich habe damals diese Besprechungen mit der Harmlosigkeit der Kinder Gottes als Gedanken- und Erfahrungsaustausch betrachtet. Andere mögen das anders gesehen haben.

Stude: Auch die Finanzierung lief großteils über diese Abteilung. Das schloss einen politischen Pluralismus und freien Meinungsstreit von vornherein aus. Damit verblasste zunehmend das Profil der CDU wie auch das der anderen Parteien in der DDR. Robert Havemann hat diese einst als Filialen der SED charakterisiert, versehen mit eigenen Firmenschildern.

Fischer: Einspruch. Finanziert hat diese Abteilung weder die CDU noch die anderen Parteien. Bekanntlich decken auch die altbundesdeutschen Parteien ihre Ausgaben nicht nur aus Mitgliedsbeiträgen, sondern auch aus Wahlkampfkostenrückerstattungen oder staatlichen Zuwendungen für ihre Stiftungen. Die finanziellen Mittel, die die CDU in der DDR erhielt, kamen aus staatlicher Quelle. Das ist auch von der Unabhängigen Kommission Parteivermögen bestätigt worden, also von der Treuhandfiliale unter Leitung des Herrn Papier.

Fand die CDU im »heidnischen Land« DDR überhaupt Anklang?

Stude: Etwa ein Drittel der Bevölkerung in der DDR gehörte Mitte der 80er Jahre einer der beiden christlichen Konfessionen an. Mitglieder der CDU waren Arbeiter, Bauern, Angestellte, Intellektuelle, Freiberufler, Handwerker und Gewerbetreibende. Diese Partei sprach ein breites Bevölkerungsspektrum an, verfügte eigentlich über ein beträchtliches Machtpotenzial. Deshalb kam sie auch in den Genuss bestimmter Privilegien, durfte zum Beispiel im Gegensatz zu anderen »befreundeten Parteien« der SED mehr Ämter und Positionen besetzen. Als CDU-Mitglied konnte man sich berechtigte Hoffnungen machen, stellvertretender Direktor in einem Betrieb oder an einer Schule zu werden – natürlich unter einem Direktor, der SED-Mitglied war. Und in Weimar stellte die CDU durchgehend den Oberbürgermeister.

Das Bekenntnis der CDU zu Staat und Gesellschaft war eindeutig. Gerald Götting, Vorsitzender der CDU von 1966 bis zum Herbst '89 – und damit länger als Erich Honecker der SED vorstand –, sagte auf dem letzten CDU-Parteitag unter seiner Führung, 1987 in Dresden: »Die CDU ist eine Partei der DDR. Sie entwickelt, verwirklicht und verantwortet die Politik unseres Staates. Die CDU ist eine Partei des Sozialismus.« Die CDU war in der DDR angekommen.

Stimmt das, Herr Fischer?

Fischer: Nicht erst in den 80er Jahren ist die CDU im Sozialismus angekommen. Otto Nuschke sagte schon 1948: »Das Wort Sozialismus schreckt uns nicht.« Die CDU hat ihre erste Stellungnahme für den Aufbau des Sozialismus in der DDR und die Anerkennung der führenden Rolle der Arbeiterklasse unmittelbar nach der II. Parteikonferenz der SED abgegeben. Seit Beginn der 50er Jahre wusste jeder, der der CDU beitrat, dass diese Partei ihren Platz im Sozialismus gefunden hatte.

Stude: In der Parteisatzung der CDU, die bis in den Dezember 1989 Gültigkeit besaß, findet man spannende Sätze: »Die unverrückbaren Ausgangspunkte des politischen Denkens und Handels der christlichen Demokraten sind Treue zum Sozialismus, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Partei der Arbeiterklasse als führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft und Freundschaft zur Sowjetunion.«

Was ist daran spannend?

Stude: Das ist spannend, weil sich jeder mit seinem Beitritt zu einer Partei deren Satzung unterwirft. Also wenn sich heute jemand hinstellt und sagt, ich war zwar in der CDU, habe das alles aber nicht so gemeint mit dem Sozialismus, kann man seine Glaubwürdigkeit anzweifeln. Zumindest muss man fragen: War er damals unglaubwürdig oder ist er es heute?

Zweitens ist aus der Satzung klar erkennbar, dass die CDU nach mehr Verantwortung und Einfluss in der DDR strebte und gesellschaftliche Verantwortung nicht auf die SED abschieben wollte, wie das später, ab Dezember '89 zu beobachten war. In der Satzung findet sich sogar die Willenserklärung, »Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus zu schaffen«. Als ich das gelesen habe, musste ich schmunzeln.

Müssen Sie da auch schmunzeln, Herr Fischer?

Fischer: Nein. Viele CDU-Funktionäre träumten auch noch nach der Wende vom Sozialismus. Als Lothar de Maizière in seiner Zeit als Parteivorsitzender gefragt wurde, was die CDU der DDR in eine gesamtdeutsche Partei einbringen könnte, nannte er zwei Elemente: Einmal das hohe C, die Wertschöpfung aus christlicher Überlieferung und christlicher Ethik, die in der West-CDU weitgehend durch Pragmatismus ersetzt worden war. Zum Anderen die soziale Komponente. In beider Hinsicht hat er sich getäuscht.

Gab es nie Dissens zur SED?

Stude: Die CDU hat in der Volkskammer ein einziges Mal gegen einen Gesetzesentwurf gestimmt, 1972. Es ging um kostenfreien Schwangerschaftsabbruch. Vermutlich war aber auch dieses Abstimmungsverhalten mit der SED-Führung abgestimmt, um die Interessen christlicher Klientel zu bedienen. Andererseits hat die CDU 1982 für das Grenzgesetz votiert, ohne eine einzige Gegenstimme.

Warum nicht, Herr Fischer?

Fischer: Die Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch an der Grenze entsprachen wörtlich den damals und meines Wissens noch geltenden Bestimmungen des Bundesgrenzschutzes. Ich weiß zuverlässig, dass Honecker selbst großen Wert darauf gelegt hat, dass der Wortlaut deckungsgleich war.

Wie verhielt sich die CDU 1989?

Stude: Wie alle anderen Parteien in der DDR auch, wurde sie von den Ereignissen überrollt. Bis Mitte Oktober sah die CDU keinen Grund, die öffentliche Protestbewegung zu befördern oder inhaltlich anzureichern. Die vorgegebene Linie war, den Protest zu kanalisieren, möglichst in vielen kleinen Veranstaltungen in geschlossenen Räumen, die nicht publikumswirksam waren, aber Druck aus dem Kessel lassen sollten. Das änderte sich erst, nachdem Erich Honecker am 18. Oktober durch Egon Krenz ersetzt worden ist und dann auch Götting sein Amt verlassen musste.

Der CDU-Stadtvorstand Halle-Ost fragte Ende Oktober '89: Haben wir den Konsens mit den anderen Parteien in der Vergangenheit nicht übertrieben, den vorhandenen Dissens wissentlich unterdrückt, haben wir dabei nicht den Widerspruch als Triebkraft außer Kraft gesetzt? Die Antwort auf diese rhetorische Frage: »Wir brauchen unseren Standort nicht zu wechseln, sich für Frieden, Demokratie und Sozialismus einzusetzen ist eine gute Sache, es kommt aber auf den Inhalt an und nicht auf schöne Worte.« Die CDU hat zunächst nicht ihre Politikinhalte in Frage gestellt, sondern die Art und Weise, wie Politik unter der SED-Vorherrschaft gemacht worden ist.

Zum entscheidenden Bruch kam es auf der Tagung vom 20. bis 22. November in der CDU-eigenen Schulungsstätte in Burgscheidungen, fast zwei Wochen nach Öffnung der Berliner Mauer. Jetzt hieß es: Öffentliche Revidierung früher fehlerhafter Entwicklungen sei nötig. Und im Dezember begann die CDU, sich von der Worthülse Sozialismus zu verabschieden.

Was haben Sie in der Wendezeit getan, Herr Fischer?

Fischer: In der Nacht des 20. September '89 habe ich meinen zweiten Herzinfarkt erlitten. Ich habe also nicht mehr alles im Blick, geschweige im Griff gehabt. Meine letzte Amtshandlung bestand darin, eine Argumentation zum sogenannten Brief aus Weimar auszuarbeiten. Vier CDU-Mitglieder haben dieses Papier verfasst, das sich heute wie ein bescheidener Katalog bürgerlich-demokratischer Forderungen liest, damals allerdings als Sprengstoff wirken konnte. Ich bin überzeugt, dass die Initiative von bestimmten Kreisen des Ministeriums für Staatssicherheit im Thüringer Raum ausgegangen war.

Agents provocateurs?

Fischer: Wie man das bewerten will, sei jedem selbst überlassen. Am 12. September informierte einer der Mitunterzeichner den damaligen stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Wolfgang Heyl bei einem Auszeichnungsakt des Nationalrats, im Pausengespräch, dass mit der Post ein Brief unterwegs wäre, der von Synodalen verfasst sei. Am 15. September wurde der Brief in Eisenach, wo die Synode der EKD tagte, auf einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit übergeben. Inzwischen war er aber bereits allen CDU-Bezirksverbänden und Ortsgruppen von Thüringen übersandt worden. Das brachte die CDU allmählich in Bewegung. Am 26. September empfing die damalige Parteiführung die Unterzeichner des Briefes in unserem Berliner Parteihaus zum Gespräch. Das Parteipräsidium versuchte zu beschwichtigen, aber auch das Gespräch in Gang zu halten.

Das Präsidium der CDU in der alten Zusammensetzung nahm zu all den Vorgängen erstmals öffentlich Stellung, als der SED-Generalsekretär von den Seinen mit kargem Dank verabschiedet worden ist. Am 18. Oktober wurde das erste Positionspapier in der »Neuen Zeit« veröffentlicht, an dem ich vom Krankenbett aus etwas mitgewirkt habe. Acht Tage zuvor hatte übrigens unter Leitung von Erich Honecker das letzte Gespräch mit den befreundeten Parteien und dem Nationalrat »nach altem Ritual«, wie Herrn Stude sagt, stattgefunden. Den Bruch würde ich – im Unterschied zu Herrn Stude – auf den 9. November datieren, als jene Hauptvorstandssitzung tagte, die Lothar de Maizière zum neuen Parteivorsitzenden wählte.

Warum hatte die CDU der DDR kein eigenes Parteiprogramm?

Fischer: Sie hatte den Gründungsaufruf von 1945. Es gab zwar 1950 Diskussionen über ein Parteiprogramm, aber man kam über Ansätze nicht hinaus. In der Präambel der Satzung haben wir festgeschrieben, worauf wir Wert legten. Und wenn Herr Stude fragt, warum CDU-Mitglieder sich dieser Satzung verpflichtet fühlten – darauf gibt es gewiss 140 000 Antworten, genauso viele wie die CDU in der DDR vor der Wende Mitglieder hatte.

CDU-Mitglieder waren ganz normale DDR-Bürger, haben sich mit dem Staat mehr oder weniger identifiziert. Wenn es in der Kaufhalle das nicht gab, was man haben wollte, waren sie unzufrieden wie die anderen auch. Auch sie wünschten sich größere Bewegungsfreiheit und Reisen in den Westen. Mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen in der DDR war die Mehrheit zufrieden – was man von der heutigen Situation sicher nicht mehr behaupten kann.

Die CDU als Partei wie auch ihre einzelnen Mitglieder – und da beziehe ich mich ein – können sich nicht aus der gesamtschuldnerischen Verantwortung für die DDR und ihr Ende stehlen. Ich verstehe nicht, warum einige CDU-Mitglieder so große Schwierigkeiten mit der Wahrheit haben.