Karl Nolle, MdL
DNN/LVZ, 21.10.2009
„Kinder zu Außenseitern gestempelt“
VdK-Chefin Ulrike Mascher hofft auf Änderung des Hartz-IV-Regelsatzes und mehr Einmalleistungen
Leipzig/München. Letzte Hoffnung Karlsruhe: Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, erwartet vom Bundesverfassungsgericht eine klare Kampfansage gegen die bisherige Hartz-IV-Regelung für Kinder.
Frage: Ist ein Kinderregelsatz von bis zu 250 Euro für unter 14-Jährige das größte Ärgernis der Hartz-IV-Gesetze?
Ulrike Mascher: Ich empfinde es als große Ungerechtigkeit. Es ist schon gravierend, wenn die entscheidenden Weichenstellungen für Kinder unter ärmlichen Bedingungen stattfinden.
Bislang wird der Kindersatz nach Erwachsenenmaßstäben berechnet. Erwarten Sie, dass Karlsruhe diesen entscheidenden Punkt kippt?
Ich hoffe es. Ich setze große Erwartungen in die Bundesrichter, dass sie diese falsche Berechnungsgrundlage kippen und zu der Erkenntnis kommen, dass Kinder nicht 70 oder 80 Prozent eines Erwachsenen verkörpern. Kinder haben ganz andere Bedürfnisse, im Schulbereich oder in ihrer Freizeit. Sie brauchen aber hoffentlich keinen Tabak oder Alkohol, für dessen Konsum bislang der prozentuale Regelsatz Geld vorsieht.
Eine gern wiederholtes Beispiel...
...ja, weil es den Irrsinn zeigt. Man hat schematisch gesagt, Kinder sind kürzer als Erwachsene, also können wir entsprechend Hartz IV kürzen.
Wie hoch soll der Regelsatz sein?
Er muss der Lebenswirklichkeit von Kindern angepasst sein und verhindern, dass Kinder ausgegrenzt werden. Doch der Regelsatz ist nicht alles. Man könnte mehr mit Gutscheinen arbeiten, die die Teilnahme von Kindern am Sport oder an der Kultur ermöglichen. Ich wünsche mir außerdem, dass es wieder mehr Einmalleistungen gibt, die individuelle Entwicklungen von Kindern berücksichtigen.
Ein Anfang ist gemacht für Schüler von Hartz-IV-Eltern...
... ja, das ist ein erster, richtiger Schritt. Aber 100 Euro pro Jahr für den Schulbedarf geht an der Realität vorbei. Für München ist errechnet worden, dass allein ein Schulanfänger 250 Euro pro Jahr braucht.
Welche Einmalleistungen sind weiter denkbar?
Da gibt es viele Möglichkeiten. Zum Beispiel ein Fahrrad. Wenn Sie die bescheidene Summe sehen, die für Mobilität oder Verkehrsteilnahme im Regelsatz vorgesehen ist, dann ist ein Kind längst erwachsen, ehe es das Geld für ein Fahrrad zusammen hat.
Oder was ist, wenn ein Kind ein Instrument erlernen will?
Mit Hartz IV ist das unmöglich. Hier werden Kinder an den Rand der Gesellschaft gedrückt und zu Außenseitern gestempelt. Ich bekomme da eine Gänsehaut, ich finde das schrecklich.
Die Bundesregierung verteidigt die bisherige Hartz-Regelung als lernendes System. Sollte man die Anpassungen nicht besser abwarten?
Nein, denn diese Lernfähigkeit ist eine sehr schwerfällige. Wenn nur alle fünf Jahre die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe für die Hartz-IV-Anpassung herangezogen wird, dann dauert das viel zu lang. Wenn man allein sieht, welche Veränderungen es seit 2005 im Gesundheits- und Energiebereich gegeben hat, dann ist die Lebenswirklichkeit schon zehn Schritte weiter, als die Hartz-Regelung.
Schwarz-Gelb verspricht Steuerentlastungen und will das Hartz-Schonvermögen anheben. Ein guter Anfang?
Abwarten. Das Schonvermögen ist nicht der springende Punkt für die meisten Hartz-Betroffenen – sie leiden unter dem geringen Regelsatz. Und bei allem, was bislang aus den Koalitionsrunden nach außen drang, habe ich noch nichts gehört, wie eine wirksame Armutsbekämpfung funktionieren soll. Gleiche und gute Bildungschancen für alle Kinder – das wäre eine gute Zwischenüberschrift im Koalitionsvertrag, unter der konkrete Schritte stehen müssen.
Interview: Olaf Majer