Karl Nolle, MdL
spiegel.online, 21.10.2009
Armut: Abrechnung in Karlsruhe
Fast 1,7 Millionen Kinder sind auf Hartz IV angewiesen. Jetzt muss das Bundesverfassungsgericht prüfen, ob ihr Leben durch politische Willkür unnötig erschwert wurde.
Das Sozialgericht Hamburg ist ein schmutzig graues Hochhaus aus den siebziger Jahren, elf Stockwerke hoch. Allein am vergangenen Montag gingen dort innerhalb von fünf Stunden 16 neue Klagen von Hartz-IV-Empfängern ein.
Herr W. will, dass der Sozialstaat Umzugkosten übernimmt; Frau S. kämpft um Zusatzleistungen für eine gesunde Ernährung; Herr K. fordert, dass ihm eine Bildungsmaßnahme finanziert wird. Die Menschen streiten um Zuschüsse für einen neuen Fernseher, wollen kostenlose Bustickets, erwarten Gratishilfe für die Behandlung des kranken Hundes. Es geht ihnen um ein paar Euro mehr, um ein bisschen Würde und letztendlich um die Frage, was einem Menschen ohne Arbeit zuzumuten ist.
Kein deutsches Gesetz hat so viel Widerspruch verursacht wie Hartz IV. Allein 2008 zählten die deutschen Sozialgerichte etwa 170.000 neue Verfahren, und die bisherigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass sehr viele der Kläger recht bekommen werden. Die Erfolgsquote vor Gericht liegt derzeit bei etwa 30 Prozent. Doch die eigentliche juristische Abrechnung mit Hartz IV beginnt erst jetzt.
An diesem Dienstag wird das Bundesverfassungsgericht die Ansprüche von drei Familien aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern verhandeln. Die Kläger behaupten, die Bezüge für Kinder und Erwachsene seien nicht sorgfältig genug ermittelt worden und deshalb zu niedrig. Das Landessozialgericht Hessen und das Bundessozialgericht in Kassel gaben den Familien teilweise schon recht und leiteten die Fälle zur endgültigen Entscheidung nach Karlsruhe weiter.
Die höchsten deutschen Richter sollen nun Antworten auf brisante Fragen geben, und sie werden das wahrscheinlich noch bis Ende des Jahres tun. Ging alles mit rechten Dingen zu, als die Bundesregierung unter Gerhard Schröder 2003 die Hartz-IV-Regelsätze für Erwachsene ermitteln und die für Kinder einfach davon ableiten ließ? Wurde das Leben von Millionen Kindern durch politische Willkür unnötig erschwert? War es ein Verstoß gegen die Verfassung, als ihre Bedürfnisse über den Daumen gepeilt wurden und ihnen danach zum Beispiel 62 Cent im Monat für Spielzeug zustanden?
"Ja", sagt der Düsseldorfer Rechtsprofessor Utz Krahmer. Die Hartz-IV-Gesetze seien "von überforderten Ministerialbeamten unter den Vorgaben der politischen Spitzen zusammengezimmert worden". Gerade was die Hartz-IV-Sätze für Kinder betreffe, gehe deswegen nun "alle Welt davon aus, dass sie nicht verfassungsgemäß sind", sekundiert Monika Paulat, Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstags.
Es wird so lange manipuliert, bis die Rechnung aufgeht
Ausgangspunkt der Berechnung war ein scheinbar harmloser Datensatz des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden. Darin hatte die Behörde zusammengefasst, wofür die einkommensschwächsten 20 Prozent der alleinlebenden Deutschen ihr Geld ausgeben und über welches Vermögen sie verfügen. Die Daten beruhten auf der sogenannten Einkaufs- und Verbrauchsstichprobe, die alle fünf Jahre stattfindet. 2003 landeten sie in einer Bonner Zweigstelle des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, im Referat V B4.
Mit Hilfe der Wiesbadener Daten sollten die Mitarbeiter im Auftrag der Bundesregierung einen angemessenen Regelsatz für erwachsene Hartz-IV-Empfänger ermitteln und anschließend daraus die Bezüge für Lebenspartner und Kinder ableiten. Dafür sollten sie prüfen, welche Ausgaben der einkommensschwächsten Single-Haushalte mutmaßlich überflüssig sind und nicht zu einem "soziokulturellen Existenzminimum" gehören, das der Sozialstaat arbeitslosen Menschen gewährleisten soll.
Die Bundesregierung hatte auch schon eine Vorstellung, was einem Erwachsenen vermutlich reichen könnte: 345 Euro plus Heizung und Miete. Die Beamten gingen nach der Top-Down-Methode vor, die in vielen Unternehmen beliebt ist: Das gewünschte Ergebnis wird vorgegeben, und anschließend werden die Parameter so lange manipuliert, bis die Rechnung aufgeht. So ähnlich verfuhr jetzt notgedrungen auch das Referat V B4. Man rechnete so lange, bis man bei 345 Euro gelandet war. Um sicherzugehen, wurde der Betrag vorsorglich am 24. Dezember 2003 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. "Mit Rechtsstaatlichkeit hatte diese Reihenfolge natürlich gar nichts zu tun", sagt die Darmstädter Rechtsprofessorin Anna Lenze.
Der Nachwuchs wurde behandelt wie kleine Erwachsene
Derlei Druck ausgesetzt, kamen die Ministerialbeamten zu verwegenen Schlüssen. Sie billigten Hartz-IV-Empfängern ein Auto zu, aber keine Zuschüsse für Benzin und Motoröl. Sie beschlossen Abzüge bei der Kleidung, schließlich hätten einige Singles aus dem Wiesbadener Datensatz auch Geld in Maßanzüge und Pelze investiert. Sie schlugen vor, bei Kultur und Freizeit zu kürzen, weil sich Menschen mit niedrigem Einkommen laut Stichprobe ab und an auch Sportflugzeuge und Boote leisteten. Am Ende stand - völlig überraschend - der Wert, den die Bundesregierung vorgeschlagen hatte: 345 Euro.
Gibt es das? Kleinverdiener und klamme Rentner als Hobbyflieger im Nerz? In ihrer Not hatten die Ministerialbeamten offenbar sämtliche statistischen Ausreißer als Begründung für Kürzungen genommen. Denn es galt, das "Lohnabstandsgebot" einzuhalten, nach dem Sozialtransfers geringer ausfallen müssen als untere Einkommen, die durch Arbeit erzielt werden. Doch das ist nicht einfach, wenn Millionen schon für Stundenlöhne um die fünf Euro arbeiten müssen und sich kaum mehr leisten können, als unbedingt nötig ist.
Wie sehr das Referat dennoch an den strengen Vorstellungen der Bundesregierung klebte, zeigte sich auch nach der Gesundheitsreform 2004, die höhere Zuzahlungen für Medikamente mit sich brachte. Die Ministerialbeamten schlugen daraufhin im Bereich Gesundheit zwar sechs Euro auf, gleichzeitig ermittelten sie aber, dass neue Forschungsergebnisse unter anderem Abzüge im Bereich Verkehr und Mobilität rechtfertigten. Am Ende stand den Hartz-IV-Empfängern wieder die Lieblingssumme der Regierung zu: 345 Euro.
Besonders fragwürdig wurde die Rechnerei des Referats V B4, als es um die Kinder ging. Denn die Beamten machten es sich einfach und behandelten den Nachwuchs einfach wie kleine Erwachsene. Sie unterließen es, die Bedürfnisse von Kindern genau zu prüfen, und billigten den unter 14-Jährigen einfach 60 Prozent der Regelsätze für alleinstehende Erwachsene zu, den 14- bis 18-Jährigen aber 80 Prozent.
Das hatte in der Ableitung absurde Konsequenzen: Säuglingen standen statistisch betrachtet nun 11,90 Euro für Tabakwaren und alkoholische Getränke zur Verfügung, aber kein einziger Euro für Windeln; 15jährigen Jungen wurde ein deutlich kleinerer Hunger unterstellt als ihren Müttern; Schulkindern wurden keine eigens ermittelten Beträge für Hefte, Stifte oder Turnbeutel bewilligt, wohl aber Gelder für Kneipenbesuche. Vierjährige bekamen weniger Geld für Schuhe als Erwachsene, obwohl sie alle paar Monate aus ihren Schuhen herauswachsen.
"Offensichtlich willkürliche Setzungen"
Das Vorgehen war auch dem damaligen Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik des Bundesrats nicht geheuer. Er empfahl der Länderkammer, das Gesetz abzulehnen, weil es sich "offensichtlich um willkürliche Setzungen" handle. Das Plenum billigte das Regelwerk dennoch.
Dann aber wurde die Kritik an dem Gesetz immer lauter, so dass die Bundesregierung reagieren musste. Für Schulkinder gibt es nun zum Beispiel einen jährlichen Zuschuss von 100 Euro; und in den Koalitionsverhandlungen beschlossen CDU und FDP vergangene Woche, das sogenannte Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger zu verdreifachen. Künftig sollen Geldanlagen, die der Altersvorsorge dienen, bis zu einem Betrag von 750 Euro pro Lebensjahr unangetastet bleiben, wenn Arbeitslosengeld II beantragt wird.
Die Neuregelung des Schonvermögens hat für den Alltag der meisten Hartz-IV-Empfänger allerdings kaum Konsequenzen. Denn entscheidend ist, wie viel Geld jeden Monat hereinkommt. Nadine Ten Weges aus Hamburg, alleinerziehende Mutter von vier Kindern, verbringt "den halben Tag" mit Fragen wie diesen: Kann sie ihren beiden Jungen die Winterjacken für zwölf Euro das Stück kaufen? Kann sie mit ihnen in den Zoo fahren? Oder soll sie das Geld besser in einen guten Tornister für Sohn Jeremy investieren? Kann sie sich selbst mal eine neue Hose gönnen? Oder soll sie besser Geld zurücklegen für Weihnachten? "Einer muss immer zugunsten des anderen verzichten", sagt sie.
Nach Einschätzung der gerade abgewählten Großen Koalition kann sich Familie Ten Weges allerdings glücklich schätzen, dass sie überhaupt jeden Monat gut tausend Euro zur freien Verfügung bekommt und überlegen kann, in welches der Kinder das Geld jetzt investiert wird. In der Stellungnahme zur anstehenden Hartz-IV-Verhandlung in Karlsruhe lässt die Koalition den Kasseler Rechtsprofessor Stephan Rixen reichlich verschwurbelt formulieren, dass bereits die "physische" Existenzsicherung eine "sozio-kulturelle Komponente" enthalte und die "soziale Schutzpflicht" ein "Optimierungsgebot" sei. Übersetzt heißt das nichts anderes, als dass sich der Regelsatz letztlich nach Kassenlage immer wieder neu bestimmen lasse, ohne dass dadurch gegen das Grundgesetz verstoßen werde.
Dass das Bundesverfassungsgericht einen eigenen Vorschlag zur angemessenen Höhe der Hartz-IV-Bezüge für Kinder und Erwachsene macht, ist nicht zu erwarten. Es wird allenfalls die bisherige Berechnung für verfassungswidrig erklären. Für Referat V B4 wäre das nichts weniger als eine Existenzgarantie. Die Beamten müssten wieder von vorn anfangen.
Von Dietmar Hipp und Guido Kleinhubbert