Karl Nolle, MdL
Deutschlandfunk, 14.11.2009
Der Torwart und die Medien
Die Tragödie um Robert Enke
Wenn Nachrichtensprecher mit Gefühlsvokabeln um sich werfen, wenn Zeitungsmeldungen mit "fassungslos", "unfassbar", "tragisch" und "schrecklich" angefüllt sind, dann sollte man hellhörig werden.
Denn schon der normale Medienalltag krankt an ungeheuren Disproportionalitäten zwischen Ereignis und Gewichtung, zwischen Ausdrucksfähigkeit und Urteilsstärke, zwischen intellektuellen und emotionalen Inhalten. Manchmal aber kippt der öffentliche Diskurs in einen geistigen Nihilismus ab, der durchaus etwas Beängstigendes hat.
Die schrille Trauerekstase um einen Fußballer, der sich das Leben nahm, ist dafür ein Beispiel. Der Medieneinsatz war fast so exorbitant wie derjenige am Tag zuvor zum Gedenken an den Mauerfall vor 20 Jahren. Was beide Themen verband, waren Tränen, die vor Kameras vergossen wurden. Doch während die Öffnung der Berliner Mauer alle betraf, ging der Selbstmord Robert Enkes niemanden etwas an - mit Ausnahme seiner Familie und des unglücklichen Lokomotivführers. Trotzdem erschien dieses private Faktum in Gestalt eines brennenden Politikums, und für diese Verwechslung muss es Gründe geben.
Sie zu untersuchen, ist keineswegs pietätlos. Weder soll die Bedeutung des Nationaltorwarts geschmälert noch das Andenken eines beliebten Mitmenschen herabgewürdigt werden. Es handelt sich vielmehr darum, die Funktionsweise unserer modernen Gesellschaft als Erregungsgemeinschaft zu begreifen und - wie gesagt - hellhörig zu werden, wenn transzendentale Beschwörungen die öffentliche Kommunikation bestimmen.
Die den Deutschen geläufigste Form von Transzendenz heißt heute Fußball. Im Fußball feiert das Volk Kommunion, im Fußball vermittelt es sich eine Vorstellung von höheren Werten, und nicht von ungefähr werden die Stars dieses Sports auch Fußballgötter genannt. Nicht erst die WM vor drei Jahren hat gezeigt, wie sehr der Fußballsport zur Religion geworden ist: ein Spielfeld aller möglichen Ergriffenheitsbedürfnisse und Heilserwartungen, inklusive der patriotisch gefärbten.
Man kann das mögen oder verachten - Tatsache ist, dass durch die mediale Überformung der Fußballturniere jeder irgendwie an dieser Liturgie teilhat. Das Fußballgeschehen ist zu einer Bedingung bürgerlichen Daseins, zu einem Medium nationaler Selbstverständigung und zum Grundrauschen der Alltagskommunikation geworden. Zu dieser lebensweltlichen Verankerung steht so etwas wie Selbstmord natürlich im krassesten Gegensatz. Selbstmord ist der Abbruch jeder Beziehung zu sich und zur Welt, der unsagbare Abgrund des Nichts, und genau deshalb, weil man dem Selbstmord keinen einzigen lichtvollen Gedanken abgewinnen kann, fühlen sich die Wortführer des öffentlichen Diskurses davon angezogen und herausgefordert. So schwadronieren sie über "Leistungsgesellschaft" und "Respekt", grasen die Wortfelder des Mitgefühls ab und dienen doch nur einer im wahrsten Sinne heillosen Quasireligion der Sportlichkeit, die keine andere Gnade kennt als Sieg und keinen anderen Sinn als gemeinsame Ekstase.
Die schrille Trauer um Robert Enke birgt aber - neben Fußball und Selbstmord - noch ein drittes Thema, und zwar die Inszenierung des künstlichen Herzens. Wer sich noch an den Abend, die Nacht, den Tag und die Woche nach Michael Jacksons Tod erinnert, der hat eine Vorstellung von der Verschwendung psychischer Ressourcen im Zeitalter des totalen Entertainments. Es ging ja mitnichten darum, die Lebensleistung eines Künstlers zu vergegenwärtigen. Auf diesen Vorwand beriefen sich die unzähligen medialen Klageweiber und -männer bloß. Stattdessen ging es darum, sich lustvoll in einen Zustand hysterischer Verzweiflung fallen zu lassen, der unangreifbar macht. Denn Trauer immunisiert - beispielsweise gegen kritische Überlegungen hinsichtlich Rang und Wert der Dinge. Ob der König des Pop letztlich bedeutender ist als der Papst, sollte zu erörtern sein - im Verhältnis der Sendeminuten und Zeitungszeilen ist es unzweifelhaft entschieden.
Genauso steckt hinter der exzessiven öffentlichen Trauer um Enke die trotzige Erleichterung aller Beteiligten, sich über jede Prüfung von Maß und Form hinwegsetzen zu können. In einer Gesellschaft, die immer weniger von angemessenen Formen weiß, gilt: Lieber etwas mehr trauern.
Von Burkhard Müller-Ullrich, freier Journalist