Karl Nolle, MdL

SPIEGEL Nr. 06/2010, Seite 38, 07.02.2010

Gezielte Hysterie

Traditionell rufen die Rechten am 13. Februar zu einem Marsch in Erinnerung an die Bombardierung Dresdens. Dieses Jahr wollen Linke ihn verhindern.
 
In der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 überflogen 796 Lancaster-Maschinen der Royal Air Force die mit Tausenden Ostflüchtlingen überfüllte Stadt Dresden und warfen mehr als 2600 Tonnen Bomben ab. Am nächsten Tag folgten 311 amerikanische B-17-Flugzeuge mit weiteren 700 Tonnen, die sie auf das barocke Zentrum regnen ließen. Danach war das alte Elbflorenz faktisch ausradiert. Und rund 25 000 Menschen tot.

So einem dramatischen Ereignis zu gedenken ist ein zivilisatorischer Akt. Die Frage ist nur: Wer gedenkt? Und wie?

Und was ist, wenn ein Gedenken instrumentalisiert wird für politische Propaganda? Soll eine Stadt das hohe Gut der Demonstrationsfreiheit opfern, um dumpfen Populisten die Bühne zu entziehen?

Wochenlang haben die Dresdner diesmal um Antworten gestritten. Herausgekommen sind Zeugnisse von Überforderung, Hilflosigkeit und juristischer Geisterfahrerei. Und so wird es am nächsten Sonnabend, dem 65. Jahrestag der Bombardierung, zu Europas größtem Nazi-Aufmarsch kommen, zu einem massiven Polizeieinsatz, womöglich zu blutigen Krawallen.

Seit den neunziger Jahren marschieren die Rechten am 13. Februar durch Dresden und beklagen den "Bombenholocaust". Sie wettern, wie 2009 der sächsische Fraktionschef der NPD, Holger Apfel, über "Geschichtsfälschung und Leugnung der Verbrechen gegen das deutsche Volk". Aus Spanien schickte die Alianza Nacional eine Abordnung nach Sachsen, um rechte Kampfesgrüße zu übermitteln.

Zum 65. Jahrestag sollte sich das nicht wiederholen, nahm sich eine bunte Schar Anti-Rechter vor - und gründete das Bündnis "Nazifrei! Dresden stellt sich quer": Prominente sind darunter wie Bela B. von der Rockband Die Ärzte, die Linke Sahra Wagenknecht, der Sänger Konstantin Wecker und die Globalisierungsgegner von Attac Deutschland.

Sie wollen dem braunen Spuk der Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland (JLO) ein Ende bereiten, die den Gedenkmarsch als "eine idealistische Gemeinschaftstat" sieht: Die junge Generation, so steht es im Aufruf der JLO, werde "den tausendfachen Beweis antreten", dass "unser Volksbewusstsein der Vernichtung widerstanden hat".

Damit die Beweisführung diesmal scheitert, will das "Nazifrei!"-Bündnis auf Massenblockaden setzen, zivilen Ungehorsam, eben das Repertoire friedlichen Widerstands.

Die Strategie ist nicht neu. 2008 blockierten Zehntausende die Kölner Innenstadt und verhinderten so den Zugang von Rechtsextremen zu einem Anti-Islam-Kongress. 2002 stellten sich in Freiburg 15 000 Menschen 110 Rechtsextremen in den Weg. In beiden Fällen hatten die Politiker, die widerwillig die Demonstrationen genehmigen mussten, auf die Macht der Gegendemonstranten geradezu gesetzt.

In Dresden sehen sich die Anti-Rechts-Aktivisten dagegen plötzlich in der Rolle der Getriebenen. Die örtliche Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein und erwirkte Durchsuchungsbeschlüsse. Plakate wurden beschlagnahmt, Unterlagen, Computer und Festplatten. Allein den Aufruf zur Blockade halten die Ermittler für eine "öffentliche Aufforderung zu einer Versammlungssprengung", und das sei strafbar.

Seither ist die Stimmung vergiftet, Justiz und Politik wird "Bürgerkriegsrhetorik" vorgeworfen. In Berlin müssen sich Parlamentarier der Grünen verantworten, weil sie die inkriminierten Plakate vor dem Abgeordnetenhaus hochgehalten hatten - das Landeskriminalamt ermittelt wegen Verdachts von Verstößen gegen das Versammlungs- und Bannmeilengesetz.

In Thüringen sieht sich der Linke-Fraktionschef Bodo Ramelow einem Ordnungswidrigkeitsverfahren ausgesetzt, weil er die "Nazifrei!"-Aufrufe an einer Laterne vor dem Erfurter Landtag befestigt hat. "Deutsche Bürokratie in Reinkultur", beklagt Ramelow. Es werde "gezielt Hysterie geschürt" und "zivilgesellschaftliches Engagement kriminalisiert".

Für den 65. Jahrestag sucht der Freistaat Sachsen sein Heil lieber in Verboten. Dazu wurde zunächst einmal ein neues Versammlungsrecht verabschiedet; es schränkt am 13. und 14. Februar die Demonstrationsfreiheit in der Dresdner Altstadt und in Teilen der Neustadt ein. Die Stadt Dresden untersagte daraufhin den Trauermarsch der JLO, obwohl selbst Verfassungsrechtler frühzeitig Zweifel an dem Gesetz angemeldet hatten.

In ihrer Verbotsbegründung gab die Verwaltung vor allem einen polizeilichen Notstand vor. Es sei "angesichts des sehr hohen Mobilisierungsgrades im rechts- und linksextremistischen Lager mit gewaltsamen Ausschreitungen zu rechnen". Der Rest ist Mathematik: 5000 Randalierer werden erwartet, die Polizei sichert in der Regel einen gewaltbereiten Demonstranten mit drei Beamten. Um beide Gruppen auseinanderzuhalten, wären danach stolze 15 000 Polizisten nötig. Die kühne These ließ sich nicht lange halten: Das Verwaltungsgericht Dresden kippte das Verbot am Freitag, es vermochte keinen Notstand zu erkennen.

Die Stadt wird zwar noch das Oberverwaltungsgericht anrufen, doch auch dort stehen die Chancen für ein Verbot kaum besser. So rüsten sich alle Seiten für ein unruhiges Wochenende. Sachsens Justizminister hat bereits Richter und Staatsanwälte zum Bereitschaftsdienst eingeteilt, die Justizvollzugsanstalt in Dresden Zellen geräumt. 80 Festnahmen wären zunächst kein Problem. STEFFEN WINTER