Karl Nolle, MdL

spiegel-online.de, 13:17 Uhr, 09.02.2010

Urteil des Verfassungsgerichts "Eine Ohrfeige für die Politik, jubeln Sozialverbände."

Regierung verspricht rasche Hartz-IV-Korrektur
 
Die Verfassungsrichter rechnen ab: In einer Grundsatzentscheidung verlangen sie eine völlige Neukalkulation der Hartz-IV-Sätze. Eine Ohrfeige für die Politik, jubeln Sozialverbände. Die Regierung lobt kleinlaut das "wegweisende Urteil" - und hofft, dass die Reform nicht zu teuer wird.

Berlin - Als Hans-Jürgen Papier das Urteil der obersten deutschen Richter zu Hartz IV verlas, da konnten die Vertreter der Regierung nur an einer Stelle aufatmen. Und auch das nur kurz. Die bisherigen Leistungen seien "nicht evident unzureichend", sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Gerade hatten Papier und seine Kollegen in einem Grundsatzurteil entschieden, dass die Hartz-IV-Sätze verfassungswidrig berechnet sind und der Gesetzgeber sie bis Ende 2010 neu regeln muss. Vor allem kritisierten sie, dass der Bedarf von Kindern bis 14 nicht tatsächlich ermittelt wurde, sondern vom Existenzminimumeines Erwachsenen abgeleitet ist - daher seien zum Beispiel Bildungsausgaben für Kinder unberücksichtigt.

"Nicht evident unzureichend" - das heißt: Nur weil die Richter die Berechnung der Sätze für verfassungswidrig halten, müssen sie noch nicht zu niedrig sein. Es steht also keineswegs fest, dass der Staat nach dem Hartz-IV-Urteil künftig allen Hartz-IV-Empfängern mehr Geld zahlen wird. Vielleicht reicht es auch, nur die Berechnungsmethode zu ändern?

Absehbar ist bisher nur, dass zumindest für Kinder am Ende einer Neuregelung höhere Leistungen stehen dürften. Entsprechend kleinlaut gab sich die Bundesregierung nach dem Urteil. Aussagen zu den Mehrkosten wich Arbeitsministerin Ursula von der Leyen lieber aus - stattdessen lobte die CDU-Politikerin das "wegweisende, bahnbrechende Urteil". Die Bildung der Kinder sei heute der große Sieger.

Der Staat müsse verhindern, dass Kinder wegen fehlenden Materials wie Taschenrechner oder Füller nicht in der Schule mithalten könnten. Dies sei eine Fürsorgeleistung des Bundes, auf die Kinder Anspruch hätten. Die Politik könne nach dem Richterspruch nicht mehr darüber diskutieren, ob sie das zahlen wolle - sondern nur noch, wie sie das bezahlen könne.

Die Ministerin sagte eine Neuberechnung bis Ende des Jahres zu. Der Gesetzgeber stehe unter ungeheurem Zeitdruck. Das Gericht habe selbst darauf hingewiesen, dass die erforderlichen Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 erst im Herbst vorlägen, aber dennoch eine Frist bis Jahresende gesetzt.

Von einem "klaren Handlungsbedarf an den Gesetzgeber" sprach Familienministerin Kristina Köhler (CDU). Die Regierung werde jetzt "schnellstmöglich" daran gehen, die Vorgaben umzusetzen, sagte sie. Die Neuregelungen zum Existenzminimum für Kinder dürften aber nicht auf Familien verengt werden, die auf Unterstützung angewiesen seien.

Der haushaltspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Union, Norbert Barthle, hält es für "noch nicht ausgemacht", ob es "unterm Strich mehr" Geld geben wird. Weniger werde es wahrscheinlich nicht. Es müsse aber auch nicht exorbitant mehr werden. CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich sagte, er gehe von höheren staatlichen Ausgaben zur Existenzsicherung von Kindern aus. Das schränke den Spielraum für andere Aktionen ein, fügte er hinzu - offenbar mit Blick auf Reformwünsche der FDP.

FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger nannte das Urteil dagegen eine "schallende Ohrfeige für Rot-Grün". Die finanziellen Folgen seien "überschaubar" und könnten ausgeglichen werden, durch Einsparungen in der Hartz-IV-Verwaltung zum Beispiel bei der Arbeitsmarktintegration von Langzeitarbeitslosen. Projekte wie Steuerentlastungen würden durch das Urteil nicht gefährdet und sollten möglichst bis Anfang 2011 umgesetzt werden.

"Zeitlich anspruchsvoll" nannte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier die Vorgabe der Richter. Die Entscheidung veranlasse "uns gemeinsam", neue Kriterien für die Findung der Regelsätze zu entwickeln. Vor allem sei die Überarbeitung jedoch Aufgabe der Regierung und der Koalitionsfraktionen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, forderte, die eigenständige Ermittlung der Kinderregelsätze künftig alle drei Jahre zu vollziehen, und nicht wie bisher alle fünf Jahre. Er wies darauf hin, dass die SPD ungeachtet des aktuellen Urteils seit langem eigenständige und bedarfsgerechte Kinderregelsätze fordere.

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast geht davon aus, dass die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze den Staat bis zu 10 Milliarden Euro kosten könnte. Künast geht davon aus, dass die Forderung der Richter nach einer sauberen Berechnung der Regelsätze werde mit Sicherheit zu einer Erhöhung der Bezüge führen. Besonders bedeutsam seien dabei die Sätze für Kinder. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sei nun in der Pflicht und müsse noch vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai eine Lösung finden, forderte Künast.

Die Linke sieht sich durch das Urteil bestätigt. Fraktionschef Gregor Gysi sprach von einer bedeutsamen Entscheidung, weil sich die Karlsruher Richter bei ihrem Urteil sowohl auf den Grundgesetz-Artikel 1 als auch auf Artikel 20 bezogen hätten. Den Parteien, die Hartz IV beschlossen haben, werde damit bescheinigt, dass die damalige Arbeitsmarktreform sowohl der Menschenwürde als auch dem Sozialstaatsprinzip widerspreche.

Sozialverbände begrüßten das Urteil der Karlsruher Richter. Nun müssten höhere Regelsätze für Kinder beschlossen werden, erklärten die Vorsitzenden der Arbeiterwohlfahrt (AWO), des Deutschen Kinderschutzbundes, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie des Zukunftsforums Familie (ZFF). Höhere Regelsätze könnten aber nur ein erster Schritt sein, denn es gebe grundsätzliche Systemmängel in der Familienförderung.

"Dieses System ist insgesamt sozial ungerecht, bürokratisch und intransparent", sagte der Vorsitzende des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers. Kinderfreibeträge und Steuererleichterungen bevorzugten gutverdienende Familien, während Sozialgeldbezieher nicht einmal von der Kindergelderhöhung profitieren, die ihnen in voller Höhe abgezogen werde. Die milliardenschwere Familienförderung habe nicht verhindert, dass mittlerweile mehr als 2,4 Millionen Kinder in Deutschland offiziell als arm gälten.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband nannte das Urteil eine schallende Ohrfeige für die Regierung. "Es ist ein Skandal, dass Richter die Würde des Kindes vor dem Gesetzgeber und der Bundesregierung schützen müssen", erklärte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider am Dienstag. "Von der manipulativen und willkürlichen Festsetzung der Regelsätze für Minderjährige hat das Gericht glücklicherweise nichts übrig gelassen", fügte er hinzu. Es werde nun eine deutliche Anhebung der Kinderregelsätze erwartet. Nach Berechnungen des Verbandes müssen die Regelsätze je nach Altersgruppe um bis zu 20 Prozent angehoben werden: für Kinder unter sechs Jahren auf mindestens 254 Euro, für die Sechs- bis 13-Jährigen auf 297 Euro und für Jugendliche ab 14 Jahren auf 321 Euro.

Der Kölner Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge sieht in dem Urteil eine "historische Zäsur": "Indem die Regelsätze gekippt sind, droht nun auch Hartz IV zu kippen", sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Die Regelsätze seien willkürlich festgelegt worden, ohne Interesse an einer menschenwürdigen Existenz: "Das Gericht erkennt im Unterschied zur Bundesregierung an, dass Kinder keine Erwachsenen im Miniformat sind, sondern eigene Bedarfe haben."

Das Kinderhilfswerk Unicef sieht im Hartz-IV-Urteil einen wichtigen Schritt hin zu einer kindergerechten Gesellschaft. "Das Urteil weist den richtigen Weg für einen wirksameren Kampf gegen Kinderarmut", erklärte Unicef-Geschäftsführerin Regine Stachelhaus. Der Armutsdruck sei vor allem für Kinder von Alleinerziehenden dramatisch.

Höhere Regelsätze allein reichten jedoch nicht aus. "Es geht nicht nur darum, wie oft ein Kind neue Schuhe hat, sondern welchen Platz und welche Chancen ein Kind in der Gesellschaft hat. Die Politik muss jetzt endlich eine umfassende Strategie entwickeln, um zu vermeiden, dass Kinder oftmals schon sehr früh abgehängt und aus unserer Gesellschaft dauerhaft ausgegrenzt werden", erklärte Stachelhaus.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) forderte ein Sofortprogramm gegen Armut. Dazu gehörten die bessere Absicherung bei Arbeitslosigkeit, der Ausbau von Kinderzuschlag und Wohngeld, die Entschärfung der Zumutbarkeitsregelung für Jobsuchende, die Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze und die Einführung existenzsichernder Mindestlöhne", sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach am Dienstag. Sie appellierte an die Politik, die Regelsätze "rasch und in einem transparenten Verfahren" anzuheben - am besten über eine unabhängige Kommission, deren Empfehlungen der Gesetzgeber beraten soll "und nicht wie bisher Ministerialbürokraten hinter verschlossenen Türen".

Und was sagen die Kläger? Wortführer Thomas Kallay sieht in dem Urteil "keinen Grund zur Freude". Im Rückblick sei erschreckend, "was die Hartz-IV-Sätze im Leben von Menschen alles angerichtet und wie viel Leid und Armut sie den Betroffenen gebracht haben". Was das Urteil bringe, müsse sich erst noch weisen - er werde sich morgen erst mal "wie immer an meinen Schreibtisch setzen und arbeiten".