Karl Nolle, MdL
Süddeutsche Zeitung, 11.02.2010
Seehofer nennt Hartz IV "absoluten Murks". Er verlangt eine Revision der Sozialgesetze.
Die bisherige Hartz-IV-Regelung widerspreche dem Grundgedanken eines Sozialstaats. - Interview: K. Stroh
Das Bundesverfassungsgericht entschied am Dienstag, dass die Hartz-IV-Zahlungen verfassungswidrig sind. Bis Ende 2010 müssen die Regelsätze neu berechnet werden.
SZ: Freut sich der Sozialpolitiker Horst Seehofer über das Urteil?
Horst Seehofer: Es unterstreicht, was ich seit Jahren sage: Die Hartz-Gesetze waren Ausdruck des gescheiterten Denkens, alles zu liberalisieren und marktradikal zu gestalten. Dieses Denken hat im Übrigen 2003 auch zur Idee der Kopfpauschale geführt. Deshalb bin ich damals als Fraktionsvize zurückgetreten. Die Hauptkritik der Richter ist doch, dass man alles pauschaliert und sich rein an Finanzfragen ausgerichtet hat, statt Maßstäbe zu entwickeln, die zu gerechten Einzelfallergebnissen führen. Deshalb hat in der Bevölkerung, bis weit ins bürgerliche Lager hinein, kein Gesetz eine geringere Akzeptanz als Hartz IV. Wir brauchen nachvollziehbare Maßstäbe bei der Sozialgesetzgebung und keinen Fiskalismus.
SZ: Auch die Union war beteiligt.
Seehofer: Das kann man in der Tat nicht nur Gerhard Schröder zuschieben. Was damals nächtens im Vermittlungsausschuss parteiübergreifend zusammengezimmert wurde, ist absoluter Murks.
SZ: Was muss sich denn jetzt ändern?
Seehofer: Wir müssen neue Maßstäbe für die Bedarfsermittlung entwickeln und dürfen da nicht nur nach Kassenlage entscheiden. Aber wir müssen Hartz IV auch generell einer Revision unterziehen. So brauchen wir zum Beispiel wieder die Möglichkeit, einmalige Beihilfen zu zahlen. Es kann doch nicht sein, dass eine Familie eine neue Waschmaschine, wenn die alte kaputt ist, aus den Regelsätzen finanzieren muss. Es geht nicht, dass für solche Situationen gesammelt werden muss oder die Sozialverbände helfen. Das ist eines Sozialstaats unwürdig.
SZ: Rechnen Sie mit Mehrkosten?
Seehofer: Das wird man bei der Prüfung des konkreten Bedarfs sehen. Rechnen muss man damit, vor allem bei den Kindern.
SZ: Was halten Sie von der Idee, Gutscheine statt Geld auszugeben?
Seehofer: Das ist eine abenteuerliche Diskussion. Zuerst müssen wir doch die Höhe der Regelsätze klären. Sachleistungen könnten höchstens als zweiter Schritt diskutiert werden. Ich habe aber große Vorbehalte gegenüber Gutscheinen. Wenn jemand damit im Laden auftaucht, weiß jeder im Ort: Der kriegt Fürsorgeleistung. Ein solches Outing will ich nicht. Gutscheine sollten sich auf Ausnahmen zum Beispiel zur Missbrauchsbekämpfung beschränken.
SZ: Sollten die Leistungen auch nach den regional unterschiedlich hohen Lebenshaltungskosten gestaffelt werden?
Seehofer: Früher gab es das, da hatten die Kommunen bei der Sozialhilfe immer eigenen Spielraum. Deshalb brauchen wir auch bei den Hartz-IV-Regelsätzen wieder die Möglichkeit einer regionalen Differenzierung.
SZ: Sie haben davon gesprochen, dass Hartz IV generell revidiert werden muss. Was gehört für Sie da noch dazu?
Seehofer: Zum einen müssen wir eine dauerhaft tragfähige Lösung für die Jobcenter finden. Das gilt auch für die Kostenaufteilung zwischen Bund und Kommunen. Die Abgrenzung ist da völlig unzureichend. Auch die Frage der Zuverdienstmöglichkeiten oder der Anhebung der Schonvermögen wird zwar im Koalitionsvertrag angesprochen, muss jetzt aber endlich angegangen werden. Und wir müssen die Frage klären, wie wir mit denen umgehen, die eine angebotene und zumutbare Arbeit ablehnen. Da können die Behörden bislang Leistungen kürzen, müssen es aber nicht - im Gesetz ist das gummiweich formuliert. In Bayern wird sehr streng sanktioniert, in anderen Ländern gar nicht. Berlin ist hier ein Negativ-Beispiel. Da brauchen wir striktere Regeln, die bundesweit einheitlich sind.
SZ: Und das wollen Sie im Ernst alles bis Ende des Jahres schaffen, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert?
Seehofer: Wenn man will, kann man es schaffen. Diese Dinge werden schließlich seit Jahren diskutiert, da fangen wir nicht bei null an. In jedem Fall brauchen wir jetzt endlich eine professionelle Sozialgesetzgebung.