Karl Nolle, MdL
SPIEGEL Nr. 14/2010, Seite 43, 03.04.2010
SPD: Linksaußen in der Mitte
Ottmar Schreiner galt lange als betonköpfiger Parteirebell. Nun wird er wieder gemocht. Er selbst hat sich nicht bewegt, die Spitze dafür umso mehr.
Der Brief muss hier sein, irgendwo in diesem Büro, Schreiner wühlt, dann hat er ihn. Sein Parteifreund Hans Koschnick hat ihm darin kürzlich zum 64. Geburtstag gratuliert und dafür gedankt, dass er "die alten Grundsätze einer sozialdemokratischen (Arbeiter-)Bewegung streitbar durchgehalten" und "nicht einfach nur mit den ,Kopfnickern' mitgeheult" habe.
So steht das in dem Brief, Ottmar Schreiner zündet sich die nächste Marlboro an und brummt: "Ich hab mich ja manchmal schon gefragt, spinnen die anderen, oder spinnst du selbst?"
Lange Zeit hat es in der SPD eine eindeutige Antwort auf diese Frage gegeben: Schreiner spinnt. Er war mal Bundesgeschäftsführer, bis ihn Gerhard Schröder 1999 aus dem Amt drängte. Er wurde Chef der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA), kämpfte gegen Agenda 2010 und Rente mit 67, auch dann noch, als sich die Spitzenlinken längst mit den Einschnitten abgefunden hatten. Einst galt er als Pragmatiker, nun als unverbesserlicher Betonlinker, ohne sich bewegt zu haben. Stattdessen hatte sich die Partei bewegt, vor allem deren Spitze. Schreiner war isoliert, doch er blieb.
Von 2002 bis 2009 hat Schreiner keine einzige Rede im Bundestag gehalten, in diesem Jahr hat er schon dreimal geredet. Wenige Monate nach der verheerenden Wahlniederlage gehört er fast schon wieder zum Mainstream, er hat sich dafür abermals nicht einen Zentimeter bewegt. Wieder war es die Parteispitze, diesmal um den Chef Sigmar Gabriel. Der ist sowieso eher von der beweglichen Sorte.
Es ist ein Montagvormittag, im Bochumer RuhrCongress bedienen sich um Viertel nach elf die ersten mit Erbsensuppe und Würstchen. Die SPD hat zur Betriebsrätekonferenz geladen, es soll ein Signal sein an die einstige Stammklientel, an das enttäuschte Gewerkschaftslager, die große Umarmungsgeste vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am 9. Mai. Eine Stunde später tritt Schreiner ans Rednerpult, ganz vorn sitzt Rudolf Dreßler. Noch so ein Traditionssozi, noch so ein lange Verfemter.
Schreiner sagt, es habe in den vergangenen Jahren "Fehlentwicklungen" gegeben, die nun erfreulicherweise korrigiert würden. Er redet über die "gesellschaftlich nützliche und wertvolle Arbeit" von Toilettenfrauen, er ruft: "Es ist eine Schande, dass in einem der reichsten Länder der Welt immer mehr Menschen trotz Arbeit immer weniger Geld verdienen." Das ist Scheiner, wie man ihn kennt.
Dann ist Sigmar Gabriel dran, er sagt: "Heute wissen wir, dass es eine Reihe von Entscheidungen gegeben hat, bei denen jedenfalls die Warnungen der Gewerkschaften richtiger waren als unsere Entscheidungen." Es dürfe "nie wieder passieren", dass man sich so weit voneinander entferne wie in den vergangenen Jahren. Dann weist er darauf hin, dass er Mitglied der IG Metall sei. Das ist Gabriel, der klingen will wie Schreiner.
Eine Woche zuvor hat Gabriel ein Papier präsentiert, in dem die SPD-Spitze Korrekturen ihrer eigenen Arbeitsmarktreformen fordert. Es ist nicht ganz so revolutionär, wie Gabriel in Bochum klingt, doch entscheidend ist die Symbolwirkung für die eigene Basis und die verprellten Wähler: Wir haben verstanden.
Ottmar Schreiner sitzt nicht im Parteipräsidium, doch Gabriel bat ihn in die Sitzung, in der das Papier beschlossen wurde. Nachdem Parteivize Olaf Scholz es vorgestellt hatte, fragte Gabriel, ob Schreiner Ergänzungen habe. Der nannte mehrere Punkte, von denen drei sofort übernommen wurden. Über einen vierten Punkt diskutierte die Runde immerhin, es ging um die Ein-Euro-Jobs. Schreiner will sie schrittweise abschaffen, am Ende einigte man sich zu "prüfen", welche dieser Jobs in einen sozialen Arbeitsmarkt mit ordentlicher Bezahlung "überführt werden können".
Gabriel will die Partei wieder wählbar machen für die kleinen Leute, dafür braucht er einen wie Schreiner, dem nicht einmal seine Gegner je abgesprochen haben, ein Überzeugungstäter zu sein. Außerdem will Gabriel die Partei einen, da kann er keine querschießen-den Überzeugungstäter gebrauchen. Unter den Parteichefs Schröder und Franz Müntefering war Schreiner nicht einmal geduldet, nur unter Kurt Beck gab es eine kurze Entspannungsphase. Gabriel aber hofiert ihn regelrecht. Eigentlich wollte Schreiner im April den AfA-Vorsitz abgeben, sich nicht mehr die vielen Reisen durch die Republik antun. Er hatte schon seine Nachfolge geregelt, doch Gabriel und der saarländische Landeschef Heiko Maas bearbeiteten Schreiner nacheinander, bis er zusagte, wieder anzutreten.
Schreiner zündet sich in seinem Büro noch eine an, er sagt: "Über die Jahre in einer Minderheitenposition zu stehen ist sehr belastend. Aber ich bin ausgebildeter Fallschirmjägeroffizier, die schmeißen nicht hin." Er klingt zufrieden, dann sagt er: "Die Korrekturen in der Arbeitsmarktpolitik sind der erste Schub. Die nächste Etappe ist die Rente. Vor allem die Rente mit 67 hat meine Leute noch mehr auf die Palme gebracht als Hartz IV." Jetzt klingt er nicht mehr zufrieden. Eher wie einer, der gerade erst wieder anfängt.
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