Karl Nolle, MdL
DIE ZEIT, Zeit für Sachsen, Seite 56, 25.11.2010
Anpassungsgehorsam
Der Historiker Michael Richter war IM. Warum musste er über die DDR forschen?
Die Wahrheit über die Stasi lässt sich nur mithilfe der Stasi ermitteln: Dies( steile These hatte immer wieder mal Konjunktur seit Erfindung des Stasi-
Unterlagengesetzes vor zwanzig Jahren. Zum einen musste die Forschergemeinde, namentlich die Gauck-Behörde, sich die Zusammenarbeit mit altem Wachpersonal schönreden. Zum anderen darf man sich die Abwicklung eines Geheimdienstes nicht zu leicht vorstellen. Die DDR-Bürgerrechtler standen nach der Erstürmung der Stasizentralen ja vor einem Labyrinth: all die vernichteten Akten, die nicht mehr rekonstruierbaren Befehlsstrukturen, die unauffindbaren Einsatzpläne. Dazu das höhnische Schweigen der geschassten Hauptamtlichen. Da konnte einem schon die Idee kommen, dass es hilfreich wäre, wenn mal ein erfahrener Spion auspackt.
Lässt die Wahrheit über die Diktatur sich nur mithilfe der Täter ermitteln? Die These scheint jetzt wieder plausibel, nachdem der Zeithistoriker Michael Richter, ein namhafter Chronist der Friedlichen Revolution, als IM enttarnt wurde. Kein Wunder, dass sein Buch über den Herbst 89 so rockt! Kein Wunder, dass er am HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung reüssierte! Der Mann kannte sich halt aus! Oder wie?
Richter, heute 57, hatte 1991 von der GauckBehörde einen Persilschein bekommen, weil er behauptete, von der Stasi zur Zusammenarbeit gezwungen worden zu sein und nichts Belastendes berichtet zu haben. Doch nun belegt die genaue Lektüre der Akten das Gegenteil. Der IM denunzierte um 1980 Kommilitonen als Urheber von »Hetzschriften« und schrieb für die Stasi das Notizbuch eines Freundes ab. Man könnte natürlich sagen: Ach Mensch, warum soll uns das ein halbes Leben später noch empören? Aber eines wüsste man doch gern: Warum musste der TM ausgerechnet DDR-Forscher werden?
»Wir Geschichtsschreiber leben nun mal vom Vertrauen der Leser, dass wir der Wahrheit so nahe wie möglich kommen wollen«, sagt einer von Richters Kollegen, der empört ist, weil die beiden eben erst gemeinsam einen Atlas zur Friedlichen Revolution in Sachsen herausbrachten. Tobias Hollitzer vom Leipziger Stasimuseum sagt: »Es gibt Verfehlungen, die es einem einfach verbieten, den Weg des Aufarbeiters einzuschlagen. Wenn Richter jetzt behauptet, er hätte sich längst offenbart — was soll das gewesen sein: eine heimliche Offenbarung? Und wem gegenüber? Dem Verfassungsschutz? Ausgesuchten Vorgesetzten? Bei der Stasi hieß das erweiterte Konspiration. Ich jedenfalls habe wie viele andere nichts gewusst.«
Kompliziert wird der Fall des IM »Thomas« durch dessen Übersiedelung in die Bundesrepublik 1981, wo er in der Adenauer-Stiftung zum Ost-CDU-Experten aufstieg. Er selbst berichtet, er habe sich damals von der Stasi losgesagt. Der Bruch könnte aber auch ein typischer Doppelagententrick gewesen sein. Wir werden es wohl nicht mehr erfahren. Wenn aber auf Richter nun ein falscher Verdacht fällt, dann hat er ihn selbst heraufbeschworen. Denn der IM packte nie öffentlich aus, genau wie vor ihm schon ein halbes Dutzend Historiker, die Anfang der neunziger Jahre geoutet wurden. »In der Forschercommunity war die Rolle des MfS deshalb brisant, weil mehrere westdeutsche Protagonisten vor 1989 nachweislich als IM gearbeitet hatten«, schreibt Jens Hüftmann, 35, von der Bundesstiftung Aufarbeitung in seinem Buch DDR-Geschichte und ihre Forscher. Dass Richter aufflog, daran war makabererweise ein Altkommunist beteiligt, der zum Umfeld der »MfS-Insider« gehört, einer Organisation hauptamtlicher Stasis. Wahrscheinlich fanden die den CDU-nahen Michael Richter mit seinem Faible für die 89erRevolution einfach zu antitotalitär. Auch deshalb ist es schade, dass er sich nie selbst outete.
Woher kommt eigentlich die irre Hoffnung, nicht enttarnt zu werden? »Es ist wie ein fortwährend sich verstärkender Fluch«, sagt Joachim Walther, der 1996 mit dem Buch Sicherungsbereich Literatur das Standardwerk über die Stasi und den DDR-Literaturbetrieb schrieb. »Je länger einer schweigt, desto höher wird die Barriere.« Es gebe nur ganz wenige IM wie Wolfgang Templin, der glaubwürdig alles offenlegte. Was Richter betreffe, der sei eben »kein Durchschnitts-IM« gewesen, sondern habe zu den ausgesuchten Perspektivkadern gehört, die in den Westen delegiert wurden. Dass er sich dort anpasste, sei noch kein Unschuldsbeweis, »denn auch ein Guillaume war vollkommen angepasst, um in die Nähe des Kanzlers zu kommen«. Vielleicht ist Anpassung hier überhaupt das interessanteste Stichwort. »Richter war ja kein verstockter Altkader, der versuchte, seine Weltsicht zu retten. Die Statthalterposition am Institut für Totalitarismusforschung und dass er den Fehler machte, von Leichensäcken zu sprechen, die in Leipzig im Herbst 89 gehortet worden seien, was aber nicht stimmte — all das verweist auf vorauseilenden Anpassungsgehorsam.« Die innere Barriere bei der Beurteilung der Geschichte funktioniere so, »dass man weiterhin schreibt, was von einem erwartet wird, anstatt sich eine eigene, kritisch gehärtete Wahrheit zu erarbeiten«. Es sei wie bei den glatten Opportunisten nach 1945, die sich zuhauf in den deutschen Beamtenapparat integrierten und die aus einem Schuld- und Lügenkomplex heraus ihre Sache nun besonders gut machen wollten.
Das nämlich ist von einem Historiker, der IM war, zu fürchten: nicht das revisionistische, sondern das übergute, das staatstragende Buch. Unser Misstrauen, das durch Richters Enttarnung mobilisiert wird, richtet sich nun auf die positiven Figuren seiner Bücher, auf die Helden der Revolution. Einem spät enttarnten Agenten glauben wir auch die Wahrheit nicht mehr. Dieser Punkt geht an die Stasi.
VON EVELYN FINGER