Karl Nolle, MdL
spiegel-online, 28.04.2011
Sarrazin-Debatte in der SPD: Haltung, Genossen!
Von Jakob Augstein
Thilo Sarrazin darf in der SPD bleiben - was für ein Fehler! Sein pseudowissenschaftlicher Rechtspopulismus hat mit Sozialdemokratie nichts zu tun. Mit seinem Rauswurf hätten die Genossen ein Zeichen gegen die neue Rechte in Europa setzen können. Aber sie waren zu feige.
Wofür gibt es Parteien? Was ist ihr Zweck? Warum gibt es mehrere davon und nicht nur eine einzige? Weil sich in einer Partei nur ein Teil findet, und nicht das Ganze. Weil hier Leute zusammenkommen, die in wichtigen Fragen dieselbe Meinung haben und nicht die Meinung der anderen. Weil nicht alle Ansichten nebeneinander Platz finden können, sondern manche Ansichten gegeneinander stehen müssen. Das ist Politik. Jeder soll sagen, was er will. Aber nicht überall. Thilo Sarrazin aus der SPD auszuschließen wäre kein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit gewesen sondern ein Bekenntnis zu den eigenen Grundsätzen.
Die SPD sitzt einem Missverständnis auf. Die Partei will gleichzeitig sozialdemokratisch sein und in der Mitte stehen und ins Lager der CDU ausgreifen, alles aber bitte so, dass es niemandem weh tut. Die Genossen glauben, das sei das Wesen einer Volkspartei. Das ist ein Irrtum. Denn auch eine Volkspartei ist eine Partei. Die SPD müsste es nicht dulden, wenn einer aus ihren Reihen die früheren deutschen Ostgebiete zurückerobern wollte. Und sie muss es nicht dulden, wenn einer aus ihren Reihen mit rassistischen Argumenten gegen Muslime hetzt.
Wäre Sarrazin irgendein Parteimitglied, der Aufwand eines Ausschlussverfahrens hätte sich nicht gelohnt. Aber das Wort eines ehemaligen Senators und Bundesbankers hat besonders Gewicht, und Sarrazin ist damit leichtfertig umgegangen. Es geht niemanden etwas an, was Sarrazin denkt.
Daheim mag der Politiker, den seine Tiraden das Amt bei der Bundesbank gekostet haben, mit seiner Ehefrau über die dummen Türken schwadronieren so viel er mag: ein alter, böser Mann, vor dem die Kinder davonlaufen, wenn er um die Ecke biegt. Wenn er aber seine ausländerfeindlichen Reden öffentlich führt, sind die Belange der Partei berührt. Die SPD konnte das nicht ignorieren.
Es war richtig, dass Sigmar Gabriel sich im vergangenen Sommer für einen Ausschluss ausgesprochen hat. Und es war falsch, dass er Andrea Nahles mit der Sache jetzt alleingelassen hat. Der Parteivorstand hatte den Ausschluss im vergangenen Herbst noch einhellig unterstützt. Nun dreht sich Nahles um, und keiner steht hinter ihr. Die Karrierepolitikerin hat schnell geschaltet und die erstbeste Gelegenheit genutzt, aus der Sache auszusteigen: die Kreisschiedskommission. Das ist die unterste Ebene.
Wenn einer für die gerechte Sache kämpft, sieht das anders aus. Dem Parteichef und seiner Generalin war die Causa Sarrazin nur noch lästig. Sie wollten das Thema aus dem Weg schaffen und sich auf die Wahlen konzentrieren, die in diesem Jahr noch anstehen. Das war ein Fehler. Sie hätten die Würde und das Wesen der Partei schützen müssen.
Sarrazin kann der SPD nun weiter schaden. Dieser Mann sagt Sätze wie: "Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert." Er trägt Verantwortung dafür, was mit diesen Sätzen geschieht. Islamophobie und Ausländerfeindlichkeit nehmen in ganz Europa zu. In Frankreich, Ungarn, Finnland sind rechte Parteien stärker geworden, in Italien beherrschen sie seit langem die politische Szene.
Sarrazins Rassismus-Variante ist in Deutschland begeistert aufgenommen worden. Ein Warnsignal, dass bei uns droht, was bei den Nachbarn bereits eingetreten ist. Um so wichtiger wäre eine entschlossene Reaktion der SPD gewesen. Und um so schlimmer, dass sie davor zurückgeschreckt ist. Der Satz aus dem Grundgesetz, dass die Parteien an der politischen Willensbildung mitwirken, ist keine Floskel. Parteien haben einen Erziehungsauftrag, einen Bildungsauftrag. Wenn die SPD auf dumpfes Ressentiment in den eigenen Reihen stößt, muss sie dagegen vorgehen und nicht davor in die Knie gehen.
Besäße Sarrazin das, was man früher einen Funken Anstand nannte, hätte er der SPD von sich aus den Rücken gekehrt. Wolfgang Clement hat das seinerzeit so getan und nachher gesagt: "Ich bleibe Sozialdemokrat ohne Parteibuch." Bei Sarrazin ist es umgekehrt.