Karl Nolle, MdL
DIE ZEIT, Nr. 32, 04.08.2011
Plagiatsvorwurf: Tacheles, Herr Doktor!
Kultusminister Roland Wöller (CDU) muss sich Plagiatsvorwürfen gegen seine Dissertation erwehren.
Der Kampf um den Titel begann für den CDU-Politiker Roland Wöller am 5. November 2007. An jenem Montag ging ein Päckchen ein im Dekanat der Philosophischen Fakultät der TU Dresden. Im Umschlag lag eine 17 Jahre alte Magisterarbeit aus Bonn: Die Anfänge des Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands. Das Werk, forderte sein Verfasser, solle man sich genauer ansehen.
Seit diesem Tag vor fast vier Jahren könnte für Roland Wöller, heute Kultusminister Sachsens, eine Magisterarbeit aus der Wendezeit gefährlich werden. Die Arbeit ist – nach Hinweisen aus der Blogger-Szene – seit einer Woche ein Thema im Freistaat, auf den Fluren der Ministerien und in den Newsrooms der Redaktionen wird die Frage diskutiert: Hat etwa auch Wöller, der 41-jährige Aufsteiger der sächsischen Union, der VWL-Professor, dieser Karrieremann mit besten Verbindungen in die Bundespolitik – hat dieser Minister, der Vorbild für Zehntausende Schüler sein soll, wirklich Teile seiner Dissertation abgeschrieben?
Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands 1952–1975, so heißt Wöllers Promotion. Eingereicht am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte, verteidigt am 19. Dezember 2002 an der Philosophischen Fakultät, benotet von den Gutachtern mit der zweitbesten Note »magna cum laude«. Zu Unrecht? Ist die Arbeit ein Plagiat? Schummelei? Schludrig gemacht?
Der Versuch, die Aufregung um Wöllers Promotion zu ergründen, führt nach Berlin. Jener Mann, der dafür gesorgt hat, dass Sachsens Kultusminister seit einer Woche geradezu panisch Krisen-PR betreibt, sitzt in einem Café vor der Bundesbehörde, in der er arbeitet. Bernd Adolph ist ein großer, schlanker Mann. Er lächelt nicht. »Es geht um das Gefühl, da habe jemand seine Karriere auf eineinhalb Jahren meiner Arbeit aufgebaut«, sagt er. Adolph hat die TU Dresden im Jahr 2007 über seinen Verdacht informiert.
Das Thema seiner Arbeit interessiert den 47-Jährigen bis heute. Er sagt, er habe sich gefreut, als vor ein paar Jahren neue Literatur erschien – Wöllers Dissertation. Er hat sich das 50 Euro teure Buch bestellt, dann darin gelesen. Und schnell habe er gespürt: »Das kommt dir bekannt vor. Das hast du nicht nur schon mal gelesen. Das hast du auch schon mal geschrieben.«
Der Verdacht war begründet. Zu diesem Schluss kam, wie erst jetzt bekannt wurde, Ende 2007 der Promotionsausschuss der Philosophischen Fakultät der TU Dresden. Zwar sei Wöller »kein Täuschungsvorwurf im akademischen Sinne« zu machen, schrieb der damalige Studiendekan Anfang 2008 in einem Brief, der an Wöllers Privatadresse ging, an den »sehr geehrten Herrn Staatsminister«. Allerdings halte man »die Menge der Übereinstimmungen« zwischen Magisterarbeit und Dissertation »für bedenklich«, Wöller habe »im konkreten Einzelfall nicht im hinreichenden Maße« mit dem Original übereinstimmende Stellen kenntlich gemacht. Eine Ohrfeige für einen Bildungsminister. Aber keine Aberkennung seines Titels.
»Als ich diesen Brief las, war ich sehr zerknirscht und getroffen, weil mir tatsächlich Fehler unterlaufen sind«, sagt Wöller im Interview (siehe unten). Er sagt das so oft, dass es wie auswendig gelernt klingt. Die Prüfung, das zu betonen sei ihm wichtig, ergebe deutlich, dass ihm kein Plagiat vorzuwerfen sei.
Aber wie verlief diese Prüfung? Es ist beschwerlich, das Plagiatsverfahren, das die TU Dresden 2007 einleitete, zu rekonstruieren. Sechs bis sieben Professoren und Dozenten, sagt der Kunsthistoriker Bruno Klein, seien involviert gewesen. Klein war Chef des Promotionsausschusses der Philosophischen Fakultät, heute ist er ihr Dekan. Er selbst habe die Arbeiten nebeneinander gelegt und verglichen. Es habe lebhafte Diskussionen gegeben, sagt Klein. Am Ende sei einhellig entschieden worden – Rüge, aber keine Aberkennung. Jedoch: Externe Gutachten seien nicht angefertigt worden, sagt Klein. Und ein Urheberrechts-Jurist, der damals als Experte herangezogen wurde, betont: »Ich habe die Arbeit nicht gelesen.« Allenfalls einige wenige Fundstellen, auf die man ihn hinwies, habe er untersucht. Diese seien in jedem Falle »grenzwertig« gewesen: schlecht zitiert, also auf den ersten Blick abgeschrieben. Aber kein Verstoß gegen das Urheberrecht. »Die Arbeit ist von mir nicht abgesegnet worden«, sagt der Jurist.
Einer, der 2007 an der Untersuchung beteiligt war, sagt arglos: »Damals war eher die Stimmung, das auf ganz kollegiale Art zu bereinigen.« Und ein Dozent, der am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte arbeitete, als Wöller dort promoviert hat, berichtet über das Plagiatsverfahren: »Mein Eindruck war, dass die Universität dazu tendierte, die Sache schnell abzuschließen.« Es gibt an der TU Dresden einen Ombudsmann als Hüter der wissenschaftlichen Redlichkeit, doch er wurde damals nicht über die Prüfung informiert.
Das Urteil und auch der Brief von 2008 erscheinen relativ milde. Denn wer die Arbeiten vergleicht, erkennt frappierende Ähnlichkeiten, die man für Zufall halten mag aufgrund gleicher Quellenlage, die man aber auch auffällig finden kann, ja: bedenklich. Dass, über Dutzende Seiten, Adolph in seiner Magisterarbeit 1990 und Wöller 2002 dieselben Protokolle und Archivakten ausgewertet haben, ist noch verständlich. Dass aber Wöller immer wieder die exakt gleichen Satzfetzen aus diesen Akten zitiert wie die ältere Magisterarbeit – ist das allein dem Material und Thema geschuldet? Dass, im ersten Teil von Wöllers Arbeit, der Aufbau, das Inhaltsverzeichnis der älteren Publikation eigentümlich ähnlich sind?
Wöller sagt, diese Vorwürfe seien ihm nicht im Einzelnen bekannt. Als die ZEIT ihm exemplarisch Stellen vorlegt, reagiert er nicht. Stattdessen verweist er – einmal mehr – auf die Prüfung der TU Dresden. Erste Tests von Mitstreitern der Internetseite VroniPlag haben deren Angaben zufolge Dutzende Stellen offenbart, an denen Wöller in dieser Weise zumindest unsauber gearbeitet hat. »Es ist schon rätselhaft«, sagt der Dresdner Plagiatsforscher Stefan Weber, »wie oft Wöller historische Originalquellen, auch mit denselben Auslassungen, von der Magisterarbeit abgeschrieben hat«. Natürlich, sagt Weber, »ist die Überprüfung solcher Fälle auch Fliegenbeinzählerei«. Aber Wissenschaft lebe eben von Exaktheit.
Wer Wöllers Doktorvater kennt, kann sich vorstellen, wie enttäuscht dieser gewesen sein muss, als die Vorwürfe gegen die Dissertation laut wurden: Ulrich Kluge galt als penibel in Fragen der richtigen Zitierweise. Offiziell will der emeritierte Wirtschaftshistoriker gar nicht mehr über Wöller sprechen. Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Ex-Promovenden – es gilt inzwischen als überaus schwierig. Wöller sagt, er habe mit seinem Doktorvater nie über die Plagiatsaffäre geredet. Wissenschaftler, die beide kennen, berichten, die Verbindung sei zerrüttet, der Doktorvater von Wöller enttäuscht.
War das Tempo, in dem Wöller promovieren wollte, das Problem? Anders als der Berufspolitiker Guttenberg, der sieben Jahre für seine Doktorarbeit benötigte, schaffte der Berufspolitiker Wöller dies in drei Jahren. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der Wöllers Promotion damals beobachtet hat, berichtet: »Der Mann hat unheimlich aufs Tempo gedrückt.« Jemand erinnert sich, dass Wöller bei der Verteidigung seiner Arbeit schon die Belegexemplare im Kofferraum seines Autos liegen hatte. »Nach der Verteidigung sagte er: ›Ich muss kurz weg.‹ Dann brachte er die Bücher in die Universitätsbibliothek, um möglichst schnell seine Urkunde zu bekommen.« Als »ungemein ehrgeizig«, »mit Sprengsätzen in den Ellenbogen«, »zielgerichtet«, ja als »außerordentlich karrierebewusst« bezeichnen ihn jene, die das Verfahren damals beobachteten – selbst Wohlmeinende.
Andere werfen Wöller vor, dass er die Grenzen habe verschwimmen lassen zwischen politischer Karriere und wissenschaftlicher Arbeit. Bei der Verteidigung saß im Zuschauerraum der Wissenschaftsminister persönlich, ein Freund Wöllers: Matthias Rößler (CDU). Einer der Gutachter im Promotionsverfahren erinnert sich, dass gar Wöllers Sekretärin mit der Unterschriftenmappe bei der mündlichen Prüfung aufgetaucht sei. Und vielen Beteiligten stößt bis heute übel auf, dass Wöller seinen engen Betreuer am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte, den damaligen Wissenschaftlichen Oberassistenten Peter E. Fäßler, einige Jahre später als Referenten in seinem Ministerbüro anstellte. Hat dies nicht einen Beigeschmack? Wöller sagt, er sehe das anders.
Und so ist dies ein Fall der vielen Fragen. Es ziemt sich nicht, dem Kultusminister Plagiate zu unterstellen, solange sie nicht erwiesen sind. Andererseits: Seit Jahren hatte die TU Dresden keinen so heiklen Fall. Ihr einstiger Rektor Achim Mehlhorn sagt, normalerweise machten ihm nur die Chinesen Probleme. Mehlhorn ist mittlerweile Ombudsmann der TU. »Plagiatsvorwürfe sind bei uns sehr selten. Wir beschäftigen uns höchstens mal mit asiatischen Studenten, die unser Urheberrecht nicht kennen«, sagt er. Das Amt des Ombudsmannes ist kein Vollzeitjob. Der Fall Wöller ist überhaupt der einzige, von dem Mehlhorn weiß. Und der Theologieprofessor Christian Schwarke, bis 2009 Dekan der Philosophischen Fakultät, berichtet: In seinen sechs Jahren im Dekanat habe er so einen Plagiatsverdacht nur einmal erlebt. Er meint den gegen Wöller.
Die Frage lautet nun, wann sich VroniPlag mit dem Fall beschäftigt. Roland Wöller behauptet, vor einer Überprüfung sei ihm nicht bange. Die TU Dresden erklärt: Transparenz sei ihr wichtig. Dekan Klein sagt, dass neue Vorwürfe sogar zu einer neuen Bewertung führen könnten: »Dann wäre das Verfahren wieder eröffnet.«
Der Gründer von VroniPlag, der in den Medien nur Goalgetter genannt werden will, sagt: Wöllers Arbeit liege auf seinem Nachttisch. Jeden Abend lese er einige Seiten. Gerade habe er etliche Vergleichsquellen aus der Bibliothek geholt. Zu dritt suche man derzeit nach Plagiaten in Wöllers Arbeit. Es ist der nächste große Fall.
Zuerst, sagt Goalgetter, müssten sich der Promotionsausschuss und Wöller aber positionieren: Auf welche Stellen bezieht sich die Rüge von 2008? »Wöller muss die Akten freigeben«, fordert Goalgetter. »Es geht hier nicht nur um den guten Ruf von Wöller, sondern auch um den guten Ruf der Universität.«
Wöllers früherer Betreuer Peter Fäßler, der heute betont, mit der Begutachtung von Wöllers Arbeit nichts zu tun gehabt zu haben, erklärt: »Es würde mich schon sehr überraschen, wenn die Vorwürfe deutlich über das hinausgingen, was 2007 schon von der TU Dresden untersucht wurde.«
Aber das Leben, fügt Fäßler hinzu, sei ja voller Überraschungen