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spiegel-online.de, 18.08.2011

S.P.O.N. - Im Zweifel links: Gesellschaft vor der Kernschmelze

Von Jakob Augstein
 
Mit den Krawallen von London erlebt der Westen sein soziales Fukushima. Aber wer hatte denn gedacht, die Vermehrung des Reichtums durch einige wenige bei gleichzeitiger Verelendung der Vielen könne so weitergehen?

"Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts", hat Botho Strauß geschrieben. Aber das gilt nicht mehr. Inzwischen können wir uns die Gestalt unserer Tragödie ausmalen. Wir müssen nur bei YouTube nachsehen. Die Bilder der London Riots sind der Vorfilm unserer Zukunft: Der malaysische Student Asyraf R. sitzt blutend am Boden, ein paar Jugendliche beugen sich über ihn, zwei helfen ihm auf, der Dritte öffnet langsam den Rucksack des Verletzten und räumt ihn aus. Den jungen Mann, der sich nicht wehren kann, lassen sie stehen.

Das ist der menschliche Nullpunkt.

Der britische Premier Cameron hat ein paar Tage gebraucht, um die richtigen Worte zu finden. Erst in dieser Woche sagte er: "Die sozialen Probleme, die sich seit Jahrzehnten entwickelt haben, sind vor unseren Augen explodiert." Und er sprach von der "kaputten Gesellschaft". Für einen Tory ist das ein Fortschritt. "Gesellschaft" - das Wort kommt dem britischen Konservativen nicht leicht von den Lippen. Für Margaret Thatcher war das der springende Punkt: "Während die Sozialisten von der Gesellschaft ausgehen und wie man sich in sie einfügt, nehmen wir den Menschen als Ausgangspunkt", hat die eiserne Premierministerin gesagt.

Aber wenn die Gesellschaft kaputt ist, geht auch der Mensch kaputt. Das wollten Thatcher und all die anderen neoliberalen Ideologen nach ihr nicht wahrhaben. Der Markt hat keine moralische Qualität, und ohne Moral werden wir alle zu Tieren.

Moralischer Meltdown

Jetzt fällt es plötzlich allen auf. Im konservativen "Daily Telegraph" schreibt der Konservative Charles Moore, der die offizielle, erst nach ihrem Tod zu veröffentlichende Biografie über Thatcher verfasst hat: "Es hat mehr als 30 Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?" Und in der konservativen "FAZ" greift der konservative Frank Schirrmacher das auf und wendet es gegen Angela Merkel und die CDU. Er bejammert, mit welch "gespenstischer Abgebrühtheit" die Kanzlerin das moralische Vakuum bürgerlicher Politik verwaltet.

Die Aufstände in London sind, so scheint es, für das soziale Selbstverständnis des Westens, was Fukushima für sein technologisches Selbstverständnis war: der Super-GAU, die immer denkbare, aber nie erwartete Katastrophe, der moralische Meltdown.

Aber bei allem Respekt: Das Einzige, was hier verwunderlich ist - ist die Verwunderung. Wer hatte denn gedacht, es werde ewig so weitergehen? Wer hatte geglaubt, die Vermehrung des obszönen Reichtums durch einige wenige bei gleichzeitiger Verelendung der Vielen werde ohne Folgen bleiben? Die entgrenzte Akkumulation ist kein Unfall des kapitalistischen Systems. Sie ist das System. So wie Mauer und Gulag keine Unfälle des Sozialismus waren, sondern seine Wahrheit. Kapitalismus bedeutet, einer besitzt die Yacht mit Swimmingpool und Hangar für den Heli, und Millionen haben seit Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen. Sozialismus bedeutet für alle Menschen das Glück, und wer nicht mitmacht, kommt in den Knast.

Neoliberale auf den Scherbenhaufen der Ideologien

Die Neoliberalen können jetzt neben den Linken ihren Platz auf dem Scherbenhaufen der Ideologien einnehmen. Kein Grund zur Freude. Die deutsche Linke krankt seit jeher daran, dass sie die Idee der Gerechtigkeit nicht mit der Idee der Freiheit verbinden kann. Die Partei Die Linke hat sich das Wort links unter den Nagel gerissen und besetzt, so wie die FDP seinerzeit das Wort von der Freiheit besetzt hat. Das bekommt solchen Begriffen nicht. Sie degenerieren in der politischen Abnutzung.

Wenn Gesine Lötzsch und Klaus Ernst und das unwürdige Gezänk über die traurige DDR-Vergangenheit und Sahra Wagenknecht und ihr Haufen von DDR-Vertriebenen, die in Wahrheit nicht mal mehr als politische Folklore taugen - wenn all das links ist, wer will dann links sein?

Die Zeitung "Junge Welt" hat vor kurzem einen zynischen Titel gemacht, auf dem sie sich für den Mauerbau bedankt, für die Stasi-Gefängnisse, die Unterdrückung an den Schulen. Das ist nicht links. Das ist unanständig.

Das vernachlässigte Gemeinwesen wird untergehen

Links in einem politischen Sinne wäre es, das parlamentarische System gegen seine Feinde zu verteidigen und innerhalb dieser Gesellschaft für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen. Der Posten ist frei, seit die Sozialdemokraten ihn gekündigt haben. Dafür müsste sich Die Linke aber endlich von dem Gedanken verabschieden, die wahre Vollendung der Gesellschaft liege jenseits des parlamentarischen Systems. Dort wartet nur die Stasi. Sonst nichts.

Das parlamentarische System braucht stärkere Verbündete. Es gerät unter Druck. Das Autoritäre wittert schon seine Chance: Der Rechtspopulismus hat überall Zulauf, in England haben sich die Rechten zu Bürgerwehren formiert, Premier Cameron denkt über eine Kontrolle von Facebook und Twitter nach, wie sie in arabischen Staaten praktiziert wird. In Deutschland fordert der Innenminister die Aufhebung der Anonymität im Internet.

Eine Demokratie ohne Demokraten hat keine guten Aussichten. Wir lernen aus der Geschichte bekanntlich wenig. Aber an diese Lehre von Weimar sollte man sich erinnern: Die res publica amissa, das vernachlässigte Gemeinwesen, wird am Ende untergehen. Wenn es darum geht, was uns wichtiger ist, die Demokratie oder der Kapitalismus - wie werden wir uns entscheiden?

Und: Wird man uns überhaupt entscheiden lassen?