Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 16:16 Uhr, 13.10.2011

Ostdeutschland: Den Ingenieur braucht keiner mehr

Obwohl es doch an Fachkräften mangelt, sind in den östlichen Bundesländern viele Ingenieure arbeitslos, und ihr Können bleibt ungenutzt.
 
13. Oktober 2011, Im Osten der Republik jammern Unternehmen besonders laut über den Mangel an Fachkräften - sie suchen sogar in den Nachbarländern nach ihnen. Dabei sind viele frühere DDR-Ingenieure arbeitslos. Ihre Ausbildung gilt als mustergültig. Dennoch hatten viele von ihnen nach der Wende nie eine Chance.

Für die erzgebirgischen Firmen steht sich Steffi Haueis die Beine in den Bauch. Mit ihrem Büroservice sucht sie Fachkräfte für Unternehmen aus der Region: Facharbeiter für Heizung und Sanitär, Techniker und vor allem Ingenieure. "Die Firmen zahlen uns inzwischen zusätzliche Prämien, wenn wir ihnen Ingenieure bringen", sagt sie. Deshalb haben sie sie nach Tschechien geschickt. Zusammen mit der Arbeitsagentur und rund 20 anderen Unternehmen will sie auf einer Jobbörse in Karlsbad tschechische Fachkräfte anwerben.

Im Osten Deutschlands, wo die Bevölkerung seit Jahren schrumpft, reden alle vom Fachkräftemangel. "Die Firmen lehnen jetzt schon Aufträge ab, weil sie keine Leute haben", sagt Haueis. 80.200 Ingenieure fehlen im ganzen Land, hat der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) für den September ausgerechnet. Das sei die größte Lücke seit dem Jahr 2000.

Manche Forscher halten das zwar für übertrieben, wie etwa Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Doch selbst er betont: "In großen Teilen Ostdeutschlands könnten erhebliche Engpässe entstehen." Dabei müssten sich die Unternehmen nur in der Nähe, diesseits der Grenze, umschauen. Obwohl es doch an Fachkräften mangelt, sind in den östlichen Bundesländern viele Ingenieure arbeitslos, und ihr Können bleibt ungenutzt.

6700 waren es dort im September. Das ist auf den ersten Blick nicht so viel. Doch es ist zu viel, wenn angeblich jeder gebraucht wird, der mit Maschinen und Zahlen umgehen kann. Mehr als die Hälfte aller arbeitslosen Ingenieure kommt aus Ostdeutschland, obwohl im Westen der Republik vier Mal so viele Menschen wohnen.

Als der Ostblock zusammenbrach, und damit wichtige Exportmärkte, mussten viele DDR-Betriebe aufgeben. Die Reste übernahmen meist Westfirmen. Die Ingenieure traf das besonders hart - weil es so viele von ihnen gab in dem hoch industrialisierten Land. 1989 lebten im Osten genau so viele Ingenieure wie in der wesentlich größeren Bundesrepublik, so schreibt es Werner Wolter in einer Untersuchung über die Qualifikation der DDR-Ingenieure. Prozentual gerechnet waren es gut dreimal so viele. Über das Jahr 1975 sagt er: "Insgesamt wurde damals in der DDR gut jeder zehnte Jugendliche eines Geburtsjahrganges zum Ingenieur ausgebildet. In der BRD waren es 2,3 Prozent."

Viele Karrieren - nur in der Weiterbildung

Für viele von ihnen begann nach der Wende eine regelrechte Weiterbildungskarriere: Sie lernten ganz schnell Englisch und Betriebswirtschaft und alles andere, was man im neuen System vielleicht gebrauchen könnte. Karl Brenke vom DIW glaubt heute, dass die vielen Weiterbildungsprogramme alles schlimmer statt besser gemacht haben. "Man hat den Leuten die Illusion vermittelt, sie müssen nur immer noch eine Maßnahme mitmachen, dann wird das schon", sagt er, "stattdessen sind sie gar nicht mehr in den Arbeitsmarkt gekommen."

Lock-in-Effekt nennen Ökonomen das: Die Menschen blieben in den Maßnahmen eingesperrt, ein Wechsel in den Arbeitsmarkt wurde immer schwieriger. Besser wäre es gewesen, sie hätten sich so schnell wie möglich in Bayern oder Baden-Württemberg beworben, sagt Brenke.

Gute Ingenieure, schlechte Selbstverkäufer

Ein weiterer Nachteil für die Fachkräfte aus dem Osten: Sie mussten sich erst im neuen System zurechtfinden. "Wir hatten keinerlei Erfahrung mit Arbeitslosigkeit", sagt Christian Gaudes, promovierter Informatik-Ingenieur. Er trifft sich regelmäßig in Chemnitz mit Arbeitslosen in der "Selbsthilfegruppe innovativer Chemnitzer Ingenieure." Wenn sie sich austauschen, reden sie auch über ihre Ratlosigkeit. Konkurrenz und Selbstvermarktung waren für sie etwas Neues.

Und das merkten die Arbeitgeber: "Ich finde es erschreckend, wenn ältere Ingenieure, das sind ja gestandene Persönlichkeiten, mit sehr großer Unsicherheit auftreten." Das sagte ein Unternehmensvertreter gegenüber Forschern in einer Studie des Bundesbildungsministeriums zum Ingenieurbedarf. 7 von 16 befragten Arbeitgebern hatten den Eindruck, dass sich ältere Ingenieure aus Ostdeutschland schlecht verkaufen.

So mussten viele von ihnen andere Jobs annehmen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Und das wurde zum Problem: In der Studie antworteten fünf von 16 Unternehmen, sie hätten einen Bewerber nicht eingestellt, weil er zu lange fachfremd gearbeitet hatte.

Irgendwann kam noch ein Nachteil hinzu: das Alter. 39 Prozent der arbeitslosen Ingenieure in Ostdeutschland sind zwischen 55 und 64 Jahren alt. Im Westen sind es nur 31 Prozent. Und ältere Menschen haben es bei der Jobsuche schwerer. Besonders, wenn sie innerlich schon aufgegeben haben.

Kein Platz für gelernte DDR-Bürger

So bleibt viel Können ungenutzt. Dabei erkennen Arbeitgeber die Ausbildung der DDR-Ingenieure meist an. "Das wichtigste Pfund der DDR war die gute Ausbildung der Arbeitnehmer", sagt Karl Brenke vom DIW. Nach der Wende hat er Arbeitgeber dazu befragt: Sie waren beeindruckt von der praktischen Erfahrung, die die Fachkräfte mitbrachten. "Sie haben meistens schon in der Schule ein Betriebspraktikum in der Industrie absolviert. Dass jemand einen Abschluss gemacht und noch nie einen Betrieb von innen gesehen hat, ist dort nicht vorgekommen", sagt Brenke.

Besonders die Fachschulausbildung für Ingenieure war eng mit der Arbeit im Betrieb verzahnt. Zwei Drittel der DDR-Ingenieure hatten diese spezielle Art der Ausbildung abgeschlossen, oft berufsbegleitend. "Dieser Qualifikationstyp vereinigte handwerkliches Können mit ingenieurwissenschaftlichem Sachverstand", so Barbara Giessmann, die das Schicksal der Fachschulingenieure im Transformationsprozess untersucht hat.

Der Blick fürs Ganze, die heute viel geforderte Flexibilität - das müsste eigentlich auf dem Arbeitsmarkt ein Vorteil sein. Doch im Gegenteil: Viele verloren ihre Stelle, weil plötzlich Meister und Facharbeiter ihre Arbeit machten. Und auch ihre spezielle Erfahrung als "gelernter DDR-Bürger" nützte den meisten Ingenieuren nichts. Forscherin Giessmann hat darüber mit Ingenieuren gesprochen. Sie sagten ihr, "dass der ostdeutsche Ingenieur durch sein in der Zeit der Mangelwirtschaft angeeignetes Improviationsgeschick Qualitäten habe, die ihm Vorteile verschafften." Doch die Fähigkeit, aus Nichts etwas zu machen, war nicht mehr so gefragt.

Das Bundesforschungsministerium hat spezielle Coachings vorgeschlagen, um diese vergessenen Talente wieder in Arbeit zu bringen. Vielleicht werden sich die Unternehmer bald darauf besinnen. Bei der Jobbörse in Tschechien sind ein paar Elektriker und andere Facharbeiter an den Tisch von Steffi Haueis gekommen. Aber kaum ein Ingenieur.
Von Eva-Maria Simon