Karl Nolle, MdL

Die Tageszeitung "junge Welt", www.jungewelt.de, 19.10.2011

»Der Rechtsstaat steht in Sachsen auf dünnen Beinen«

Markus Bernhardt im Gespräch mit Karl Nolle (SPD), Mitglied des Sächsischen Landtages über Demokratiedefizite und die Verfolgung von Antifaschisten durch Polizei, Justiz und politische Entscheidungsträger.
 
Markus Berhardt: Die Stimmungsmache mancher Medien und Politiker gegen das bundesweite Bündnis »Nazifrei!– Dresden stellt sich quer«, das für kommenden Februar erneut zu friedlichen Massenblockaden gegen einen rechten Aufmarsch aufruft, reißt nicht ab. So fabulierte etwa Benjamin Karabinski, innenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im sächsischen Landtag, kürzlich drohende »Gewaltexzesse« von »Extremisten und Spinnern von DKP, MLPD oder Antifa im sogenannten Bündnis »Dresden nazifrei« herbei. Warum giftet die FDP derart?

Karl Nolle: Wenn sich Demokraten mit Zivilcourage den Neonazis gewaltfrei entgegenstellen, ist das kein Kaffeekränzchen. Es ist eine demokratische Pflicht, bei der aus Protest und Zorn Widerstand geworden ist. Hier steht die Meinungsfreiheit der Demokraten und der friedliche Widerstand couragierter Bürger gegen die irren Aufmärsche von Verfassungsfeinden. Was der Abgeordnete der 1,8-Prozent-Mövenpickpartei mit Schaum vorm Mund fabuliert, interessiert mich nicht.

Der sächsische Justiz- und Polizeiapparat geht massiv gegen die Neonazigegner vor, die sich in diesem Jahr an der erfolgreichen Massenblockade des Aufmarsches beteiligt haben. Für wie verhältnismäßig halten Sie den Einsatz von Überwachungsdrohnen, die uferlose Telefonüberwachung, Hausdurchsuchungen, die Entnahme von DNA-Proben und sogar gegen die Antifaschisten gerichtete Ermittlungen nach Paragraph 129 wegen »Bildung einer kriminellen Vereinigung«?

Rechtsstaat und Verfassung scheinen bei Teilen der Staatsanwaltschaft und Polizei völlig aus dem Ruder gelaufen zu sein. > PDF Dokumentation der Gerichtsbeschlüsse zu rechtswidrigen Durchsuchungen und Verhaftungen 

Der sächsische Datenschutzbeauftragte Andreas Schurig hat deshalb Alarm geschlagen. Wie sehr er recht hatte, sieht man an den verstockten Reaktionen eines Chores von Regierungspolitikern, hochrangigen Richtern und Staatsanwälten, die offensichtlich Nachhilfe darin brauchen, welche Funktion der vom Parlament eingesetzte Datenschutzbeauftragte hat.

Wie verhältnismäßig sind Beschlüsse von Amtsrichtern beim Richtervorbehalt, wenn sie auf Punkt und Komma von der Staatsanwaltschaft vorgeschriebene Durchsuchungs- und Überwachungsbeschlüsse nur noch abzeichnen? Sogar der juristische Dienst des Bundestages spricht von rechtswidrigen Verfolgungsmaßnahmen. Teile der Justiz stellen als willige politische Vollstrecker – wer befördert, befiehlt – mit ihrer Strafverfolgung auf fragwürdiger Rechtsgrundlage eines nichtigen Sächsischen Versammlungsgesetzes den demokratischen Rechtsstaat auf den Kopf, der in Sachsen, 20 Jahre nach der Wende, immer noch auf dünnen Beinen steht.

Ihr Parteifreund, der Jenaer Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD), hat sich mittlerweile durch sein konsequentes antifaschistisches Engagement und seine kontinuierliche Unterstützung von friedlichen Blockadeaktionen einen Namen gemacht. Warum ist dies – im Gegensatz zu Sachsen – in Thüringen offenbar ganz unaufgeregt möglich?

Ich gratuliere Albrecht Schröter, daß er das geschafft hat. Er findet pluralistische Verhältnisse in Thüringen vor, von denen wir in Sachsen noch weit entfernt sind.

Werden Sie sich an den geplanten antifaschistischen Blockaden im Februar beteiligen?

Selbstverständlich. Friedlichen Widerstand gegen die Nazis halte ich für meine demokratische Pflicht, eine Gewissensentscheidung. Meine Familie hat unter Lebensgefahr im Widerstand gegen die Nazis gekämpft, da werden wir heute doch wohl konsequent den Neonazis entgegentreten können. Die Antwort couragierter Demokraten auf die Inflation einschüchternder Ermittlungsverfahren und staatsanwaltlicher Verfolgungen kann nur sein, noch mehr Menschen zur friedlichen Demonstration und gewaltfreier Blockade am 13.Februar 2012 aufzurufen.

Sie haben die Thüringer SPD-Fraktion scharf kritisiert, weil sie zugestimmt hat, die Immunität des dortigen Linke-Fraktionschefs Bodo Ramelow aufzuheben. Hat bei Ihren dortigen Genossen die Koalitionsdisziplin über die politische Vernunft gesiegt?

Die Entscheidung ist blamabel und nicht nachvollziehbar, sie ist ein unverzeihlicher politischer Fehler. Abgeordnetenimmunität ist ein schwerwiegendes Verfassungsrecht. Es schützt den Abgeordneten vor politischer Willkür, das betrifft den Kern unserer parlamentarischen Demokratie, nicht zuletzt aus der Erfahrung mit der schleichenden Machtergreifung der Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik. Entscheidungen zur Immunität sind Gewissensentscheidungen und unterliegen weder Begehrlichkeiten von Koalitionsverträgen noch Fraktionszwängen oder wie in Sachsen – politischen Vorgaben von Fraktionsvorsitzenden.

CDU und SPD in Thüringen sowie CDU und Scheinliberale in Sachsen statuieren ein Exempel an unbequemen politischen Gegnern, gerade das aber soll die Immunität verhindern. Diese vordemokratische Scharfrichtermentalität wird keinen Erfolg vor den Verfassungsgerichten haben.

Verfolgt man das massive staatliche Vorgehen gegen die Antifaschisten, verwundert durchaus, daß die sächsische Polizei und Justiz nicht einmal annähernd einen ähnlich ausgeprägten Ermittlungseifer gegen die Mitglieder der neofaschistischen Gruppierung »Sturm 34« an den Tag gelegt hat, oder auch gegen Personenkreise, die in den unter dem Stichwort »Sachsensumpf« bekanntgewordenen kriminellen Netzwerken aktiv waren. Wie erklären Sie sich das?

Selbst das Skandieren von »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« durch einige hundert Neonazis am 13. Februar 2010 unter direkter Polizeibeobachtung im Neustädter Bahnhof war kein Grund für die Staatsanwaltschaft einzuschreiten. Meine Strafanzeige wurde monatelang gar nicht und dann für den Papierkorb bearbeitet. Verfahren gegen die dann weiter in Pirna vandalierenden Neonazis sind nicht bekannt. Statt dessen überzieht die Dresdner Staatsanwaltschaft friedliche Demonstranten wegen gewaltfreier Blockaden mit vordemokratischem Ermittlungseifer, der ausschließlich Kriminalisierung und Einschüchterung zum Ziel hat.

Egal was bei Gericht herauskommt, das Verfahren ist die Strafe. So auch bei über 100 Ermittlungsverfahren zum »Sachsensumpf« gegen mißliebige Journalisten, Politiker, Zeugen, Polizisten und Rechtsanwälte. Das ist ein Teil des realexistierenden schwarzen Sumpfes, in einem Land – um den Irrsinn komplett zu machen – in dem Fördergelder nur erhält, der eine grundgesetzwidrige »Demokratieerklärung« abgibt.

Sie haben sich einen Namen als glaubwürdiger Aufklärer in Sachen Filz und Korruption gemacht und haben Ihre Stimme stets gegen Neofaschismus, Rassismus und Ausgrenzung erhoben. Als Dank dafür hatte die Dresdner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Sie eingeleitet (siehe Spalte). Wie gefährlich lebt es sich als Demokrat und Aufklärer im Freistaat?

Wir leben Gott sei Dank nicht in Weißrußland. Mein Verfahren war keine Spaßveranstaltung. Es ist mit gezinkten Karten gespielt worden, von ganz oben. Ich bin zwei Jahre durch eine Geisterbahn gefahren – an jeder Ecke ein neues Gespenst. SPD, Grüne und Linke waren sehr solidarisch – und geschockt, was möglich war. Gefehlt haben nur noch untergeschobene Drogen oder Wanzen, wie beim Spiegel-Reporter Steffen Winter, oder Topfpflanzen mit Sägezahnblättern in meinem Garten. Ich bin gesund und lasse mich nicht beirren …

Der Historiker Wolfgang Wippermann kam kürzlich zu dem Schluß, Sachsen sei das »rechtskonservativste und unfreieste Bundesland der Republik«. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja, leider, das sage ich seit Jahren: »Im Vergleich zu Sachsen ist Bayern ein Hort des Liberalismus.« Es ist einmalig in der Bundesrepublik, in welcher Weise das schwarz verfilzte Land seit 20 Jahren von der herrschenden CDU-Partei- und Staatsführung mit ihrem schwarzen Gesangbuch durchorganisiert wurde.

Das ist der eigentliche Sachsensumpf, in dem Teile der Justiz bei der Verfolgung von Regierungskriminalität, Untreue, Korruption und Amtsmißbrauch wie eine institutionalisierte Strafvereitelungsbehörde wirken. Ich bin sicher, die christdemokratische Einheitspartei wird irgendwann begreifen, daß Demokratie auch dann stattfindet, wenn die CDU nicht mehr die Mehrheit hat.

>>> pdf der Seite 3 "Junge Welt" vom 19.10.2011



Dresdner Donnerhall

Zur Person: Karl Nolle

Der 1945 geborene Druckereiunternehmer, Verleger und Kunstmäzen Karl Nolle lebt seit November 1989 in Dresden und ist seit Oktober 1999 Abgeordneter der SPD im Sächsischen Landtag. Bis 2005 war er wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Fraktion, seit 2009 ist er Sprecher für Mittelstandspolitik und bis heute Obmann der SPD in mehreren Untersuchungsausschüssen. Nolle wurde 1986 aufgrund der »Unterstützung einer feindlichen Organisa­tion«– den Grünen – aus der SPDHannover ausgeschlossen, da er den Aufruf zu einer Wahlkampagne »Erststimme der SPD, Zweitstimme den Grünen. Für eine rot/grüne Mehrheit gegen die CDU« unterstützt hatte. Im August 1998 trat er der SPD wieder bei.

Karl Nolle war außerdem von 1998 bis 2010 Vorsitzender des Unternehmerverbandes Druck & Medien in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt und Vorsitzender der Dresdner Bürgergesellschaft für Kulturförderung. Er ist Mitglied im Netzwerk Sachsen gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit, des Vereins der Freunde und Förderer des Dresdner Kupferstichkabinetts, der Dresdner Gesellschaft für Lichtdruckkunst sowie des Fördervereins für das Berufliche Zentrum für Technik (BSZ) Dresden-Reick.

Der engagierte Neonazigegner gilt über Fraktionsgrenzen hinweg als Querdenker und kritischer Geist und hat sich vor allem als engagierter Aufklärer der unter dem Label »Sachsensumpf« bekanntgewordenen Machenschaften krimineller Netzwerke in Sachsen einen Namen gemacht. Aufgrund seiner beharrlichen Kritik an der sächsischen CDU und ihren Funktionären, seiner Unnachgiebigkeit und seines ausgeprägten politischen Engagements ist er bei den Christdemokraten entsprechend verhaßt.

Nach 18 Monaten stellte die Dresdner Staatsanwaltschaft am 7. Oktober 2010 ein Ermittlungsverfahren gegen Nolle wegen eines angeblichen Subventionsbetruges ein. Die Einleitung der Ermittlungen war von verschiedenen Landtagsabgeordneten und Medien harsch kritisiert worden. Offenbar solle ein Regierungskritiker politisch mundtot gemacht und in den finanziellen Ruin getrieben werden, hieß es damals. Gemutmaßt wurde über ein politisches Verfahren auf Geheiß von CDU-Regierungskreisen.

Der Spiegel schrieb über den SPD-Landtagsabgeordneten: »Karl Nolle. In Dresden ein Name wie Donnerhall. Ministerpräsidenten stürzten über den sächsischen Sozialdemokraten. Minister gerieten ins Wanken, Ministerialbeamte verdanken ihm zahlreiche Überstunden. Wenn der stets gut informierte Zwei-Zentner-Mann im Landtag seine inquisitorischen Anfragen einbrachte, blieb der jeweiligen Regierung häufig nur noch der geordnete Rückzug.« (bern)

www.karl-nolle.de