Karl Nolle, MdL
spiegel-online.de, 11:31 Uhr, 24.11.2011
Neonazi-Terror - Wo bleiben die Anständigen?
Kommentar von Jakob Augstein
In der Auseinandersetzung mit dem Nazi-Terror zeigt sich die Merkel-CDU gewohnt wandlungsfähig, der Bundestag erlebte sogar eine Sternstunde. Aber die Menschen im Land bleiben seltsam unberührt.
Die Union verabschiedet im Bundestag gemeinsam mit der Linkspartei einen Appell gegen den Rechtsextremismus. In früheren Zeiten wäre das ein hübsches Beispiel für ein Paradoxon gewesen. Wenn die Flüsse aufwärts fließen und die Hasen Jäger schießen und die Mäuse Katzen fressen - dann erst werden wir unseren Streit vergessen und gemeinsam gegen Rechts aufstehen.
Aber unter Angela Merkel wandelt sich Paradoxie in Harmonie:
Atomkraft? Abgeschafft.
Wehrpflicht? Abgeschafft.
Rechtsextremismus? Noch nicht abgeschafft, aber als Feind anerkannt.
Ob es an der Kanzlerin aus dem Osten liegt oder ob die Vernunft sich ihren Weg von allein gebahnt hat - man erkennt diese CDU nicht wieder. Oder besser gesagt, man erkennt nur zu gut das inzwischen bekannte Muster dieser neuen, überaus wandlungsfähigen Merkel-CDU: Die bereits beschlossenen Kürzungen für die Arbeit gegen Rechtsextremismus wurden flugs zurückgenommen.
Vor neun Jahren noch gab Jörg Schönbohm, damals Innenminister von Brandenburg, einer rechtslastigen Zeitung ein Interview und erklärte, je mehr sich die Öffentlichkeit mit rechtsextremen Straftaten befasse, desto höher werde deren Zahl. Es fiel damals auch das Wort vom "verordneten, moralisch überhöhten Aktionismus". Davon spricht heute niemand. Sondern es erhebt sich der ganze Bundestag, und sein Präsident Norbert Lammert sagt im Namen der Abgeordneten, und damit im Namen aller Deutschen, man sei "beschämt, dass die Sicherheitsbehörden der Länder wie des Bundes die über Jahre hinweg geplanten und ausgeführten Verbrechen weder rechtzeitig aufdecken noch verhindern konnten". Er entschuldigt sich bei den Hinterbliebenen der Opfer dafür, dass sie selbst zum Gegenstand der Verdächtigungen wurden.
Es ist sehr bemerkenswert und überhaupt nicht selbstverständlich, wie sehr die Volksvertreter die Aufklärung und die Reaktion auf die rechtsterroristische Mordserie zu ihrer Sache gemacht haben.
Entsetzen in der Politik, Gleichmut bei den Bürgern
Das Parlament hat hier zu sich selbst gefunden. In den vergangenen Monaten ist viel über seine Rolle und seine Kompetenzen gestritten worden. Ob es in der Krise des Kapitalismus und in der Ära der politischen Talk Show noch der Ort der demokratischen Entscheidung und Selbstvergewisserung ist. Angesichts der thüringischen Nazis hat der Deutsche Bundestag es an Entschiedenheit und Deutlichkeit nicht fehlen lassen.
Es ist eine Erleichterung, dass die Abgeordneten aller Fraktionen sich in dieser Woche in eine demokratische Lichterkette eingereiht haben - weil die Bürger es nicht tun.
Dem Entsetzen der Politik angesichts der Taten der thüringischen Nazis steht kein ebenmäßiges Entsetzen in der Öffentlichkeit gegenüber. Die Politik ist jenseits der historischen Dimension auch ernsthaft erschrocken über das Versagen der staatlichen Institutionen. Es steht darum jetzt nicht weniger zur Debatte als die gesamte Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik. Die Nazi-Morde könnten für deutsche Sicherheitsplaner werden, was die Anschläge vom 11. September für die USA waren. Ob die Deutschen es besser verstehen als die Amerikaner, vernünftige Lehren zu ziehen, bleibt abzuwarten.
Nur der "Anstand der Zuständigen"
Gleichzeitig hält sich aber, und auch das ist bemerkenswert, das Erschrecken der Bevölkerung, soweit man sehen kann, in Grenzen. Weder das neue Aufleuchten des Kainsmals der deutschen Nazi-Geschichte noch die peinlichen Pannen von Polizei und Verfassungsschutz treiben die Menschen auf die Straße oder nötigen sie zu anderen sichtbaren Äußerungen der Solidarität mit den Opfern. Als zu Beginn der neunziger Jahre die Hatz auf Ausländer begann oder als zu Beginn des neuen Jahrhunderts Synagogen in Brand gesetzt wurden, da erregte sich das, was man dann den "Aufstand der Anständigen" nannte. Heute ist der Nazi-Terror vor allem ein Thema für Politik und Verwaltung.
Statt des "Aufstands der Anständigen" geht es nurmehr, um das Wort zu zitieren, das Frank-Walter Steinmeier in der Bundestagsdebatte benutzte, um den "Anstand der Zuständigen."