Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 12:13 Uhr, 26.01.2012

Verfassungsschutz-Affäre: Das Grundgesetz ist links

Im Zweifel links - eine Kolumne von Jakob Augstein
 
Von wegen Verfassungsschutz! Es geht um das (vor)herrschende System. Darum werden auch nicht die irren Links-Fundis im Westen überwacht, sondern die Realos im Osten. Die sind für den real existierenden Kapitalismus viel gefährlicher.

Das Grundgesetz ist großartig. Es lohnt unbedingt, dieses Gesetz zu schützen. Man sollte es allerdings vorher mal lesen. Artikel 14, Eigentum verpflichtet, oder Artikel 15, Produktionsmittel können vergesellschaftet werden - wer das zur Richtschnur seines politischen Handelns machen wollte, wäre in Deutschland ein Revolutionär. Und damit ein Fall für die Bespitzelung durch den Verfassungsschutz.

Das Grundgesetz ist keine Ausnahme unter den deutschen Verfassungstexten: In der Bayerischen Landesverfassung findet sich der Satz, die Erbschaftsteuer diene auch dem Zweck "die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern". Das hätte Sahra Wagenknecht auch nicht besser formulieren können. Aber die wird ja auch vom Verfassungsschutz überwacht.

Die Linkspartei hat 76 Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Sie lag in den vergangenen Wahlen im Jahr 2009 bei 11,9 Prozent der Stimmen. Sie ist in 13 Länderparlamenten vertreten. In fünf Bundesländern erreichte sie mehr als 20 Prozent der Stimmen. Wenn dies eine Partei voller Verfassungsfeinde ist, hat Deutschland ein ernstes Problem. Da kann man den sieben BfV-Mitarbeiter nur Glück wünschen, die mit der Beobachtung von 27 Links-Abgeordneten und 11 weiteren Fraktionsmitgliedern in den Landtagen ihr Dasein fristen.

Mal Spaß beiseite: Ist es statthaft, gesellschaftspolitische Visionen zu haben, die über die Gegenwart hinausgehen? Ja, mehr noch: Es ist notwendig. Die Vision einer gerechten Gesellschaft liegt im Grundgesetz selbst.

Sozial ist dieses Land schon lange nicht mehr

Die Gründungsväter der Bundesrepublik hatten einen anderen Staat vor Augen, als wir ihn heute sehen. Nämlich einen, der - das steht übrigens in Artikel 20 - sozial, demokratisch und föderal ist. Sozial ist dieses Land schon lange nicht mehr, demokratisch ist es immer weniger, einzig der föderale Charakter ist noch einigermaßen intakt.

Welche Aufgabe erfüllt heute der Verfassungsschutz? Er schützt keineswegs die Verfassung. Er schützt die (vor)herrschenden Verhältnisse. Und die haben mit dem Geist der Verfassung immer weniger zu tun: Eigentum verpflichtet in Deutschland zu gar nichts, das letzte Mal wurden Produktionsmittel verstaatlicht, als Twix noch Raider hieß, und der Sinn der Erbschaftsteuer besteht hierzulande vor allem darin, die Ansammlung von Riesenvermögen möglichst nicht zu stören. Das Grundgesetz ist in Wahrheit viel linker, als es der Bundesinnenminister gerne zugeben würde. Aber man darf annehmen, dass Hans-Peter Friedrich es wie jener berüchtigte seiner Vorgänger hält und auch nicht immer mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumläuft: Es könnte sein, dass dessen Geist durch die Amtsjoppe hindurch diffundiert.

Volker Kauder, Fraktionschef der Union im Bundestag, hat gesagt, die Linkspartei werde beobachtet, weil es dazu "Anlass" gebe. Sie sei "immer noch ein Schutzraum für die alten Kader" und es könne ja nicht sein, dass der Verfassungsschutz nach dem Motto verfahre: "Rechts schauen wir genauer hin, links weniger genau." Und Innenminister Friedrich hat gesagt, man beobachte ja auch NPD-Landtagsabgeordnete. Vielleicht könnte man unter normalen Umständen solche Äußerungen als konservative Folklore abtun. Unter den gegenwärtigen sind sie einfach widerlich: Der Verfassungsschutz hat die terroristische Mordserie der Nazis aus Zwickau nicht nur nicht verhindern können. Er hat von ihr nicht einmal gewusst.

Hermann Gröhe fasste es ganz knapp zusammen: Die Linkspartei sei eine "Gefahr für unsere Demokratie". Das sagt der Generalsekretär der CDU, die einen Präsidenten stellt, für den die Wahrheit eine disponible Größe ist, eine Kanzlerin, die einem Plagiator die Stange halten wollte, und eine Bundesregierung, der das Parlament seine Rechte vor dem Verfassungsgericht abtrotzen muss.

Das Parteiprogramm der SPD redet von der "stolzen Tradition des demokratischen Sozialismus" und will, dass "alle Menschen ein Leben ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt, also in sozialer und menschlicher Sicherheit führen können". Wenn man bedenkt, dass Stundenlöhne in Deutschland nicht selten unter fünf Euro liegen, und wenn man sich die Hartz-IV-Gesetze ansieht, dann ist es mit dem "Leben ohne Ausbeutung" und der "sozialen und menschlichen Sicherheit" nicht so furchtbar weit her, und es richten sich die Ziele der SPD damit klar gegen den real existierenden Kapitalismus in Deutschland. Sigmar Gabriel wird vermutlich nur deshalb nicht vom Verfassungsschutz bespitzelt, weil allgemein bekannt ist, dass die SPD ihr eigenes Programm nicht so furchtbar ernst nimmt.

Es ist darum auch folgerichtig, dass die Spitzel des Verfassungsschutzes nicht so sehr die durchgeknallten Fundis aus den Westgliederungen der Linkspartei im Auge haben. Vor denen braucht niemand Angst zu haben: Die neutralisieren sich selbst. Es sind vor allem Leute wie Dietmar Bartsch, Petra Pau, Jan Korte und Gregor Gysi, denen das Augenmerk der Verfassungsschützer gilt. Das sind die Realos der Partei, die im ostdeutschen Alltag erprobten Linkspragmatiker, die vom demokratischen Sozialismus nicht nur reden, sondern auch das Zeug hätten, ihn zu verwirklichen.