Karl Nolle, MdL
spiegel-online.de, 13:54 Uhr, 22.03.2012
Die Ideologie der Starken
Eine Kolumne von Jakob Augstein
Privat geht vor Staat: Das ist die angebliche Erfolgsformel, die uns seit Jahren eingetrichtert werden soll. Jetzt sind die öffentlichen Kassen leer, und der Westen zankt sich mit dem Osten ums letzte Geld. Die Reichen schert es nicht - sie können sich einen armen Staat leisten.
Zwei Meldungen der vergangenen Tage:
• Im Ruhrgebiet klagen die Bürgermeister, dass sie Millionen an den Osten zahlen, während ihre eigenen Städte verfallen.
• Und in Berlin geben BMW und die Guggenheim-Stiftung bekannt, dass sie nach Protesten von Anwohnern auf ein geplantes Studienprojekt im Bezirk Kreuzberg verzichten wollen.
Die Gemeinsamkeit: Es geht um den öffentlichen Raum. Wem er gehört. Und wer über ihn verfügt. Das ist nämlich immer seltener die Öffentlichkeit und immer häufiger das, was man den privaten Sektor nennt. Das liegt daran, dass der Öffentlichkeit, also den Vielen, das Geld ausgeht. Während die Privaten, also die Wenigen, Geld in Hülle und Fülle haben.
Die Lage ist so, dass der Osten immer noch pleite ist und der Westen inzwischen auch. Der Osten kann seine eigenen Ausgaben nur zu einem knappen Drittel selbst tragen. Und von den etwa 400 NRW-Kommunen haben nur acht einen ausgeglichenen Haushalt. Kein Wunder, dass das Murren im Westen lauter wird. Und kein Wunder, dass der Osten unruhig wird. Aus dem Westen tönt es, der Solidarpakt sei "ein perverses System" und aus dem Osten kommt es zurück "Neiddebatte" und "Wahlkampfmanöver".
Der Streit zwischen Bürgermeistern West und Bürgermeistern Ost handelt davon, wem es am schlechtesten geht. Die Armen im Land spielen sich gegeneinander aus. Sie fangen an, sich wie die Straßenkinder gegenseitig den letzten Bissen aus den Händen zu reißen.
Man muss kein Haushaltsexperte sein, um zu erkennen, wenn mit den öffentlichen Etats etwas nicht stimmt. Es genügt, wenn man Kinder hat und feststellt, dass es ganz überflüssig war, die Bedeutung des Wortes Doppelsteckung zu erlernen, weil für den zugesagten zweiten Lehrer ohnehin kein Geld vorhanden ist. Oder wenn man Autofahrer ist und feststellt, dass das Geld offenbar nicht mehr für die Reparatur der Straßen reicht, sondern nur noch für die Schilder "Vorsicht Straßenschäden".
In Wahrheit sind wir alle Experten für die öffentliche Hand. Wir sehen, wie sie erlahmt. Und unternehmen nichts dagegen.
Wie Berlin sich an den Meistbietenden verkauft
Dann kommen die großen Firmen, denen es gut geht, die genug Geld haben. Sie besetzen den öffentlichen Raum, privatisieren ihn. So wie BMW und Guggenheim nach Kreuzberg kommen wollten, um sich mal mit Stadtentwicklung zu beschäftigen, rein wissenschaftlich. Sie wollten dafür auf einem Brachland am Ufer einen Glaspavillon bauen. Hier treffen sich Leute aus der Gegend zum Grillen. Sie haben diesen Raum für die Öffentlichkeit erobert. In einem Viertel, in dem Gentrifizierung kein Begriff aus dem Soziologielexikon ist, sondern Wirklichkeit: Mieten steigen, kleine Läden verschwinden.
BMW und Guggenheim wollten da ihre Ruhe haben: mit Eröffnungsparty und Reden - powered by BMW. In Berlin ist das Alltag. Diese Stadt verkauft sich immerzu an den Meistbietenden. Wenn einer kommt und zahlt, eine Autofirma, eine Modefirma, eine Mobilfunkfirma, dann kann er hier eigentlich alles haben, Plätze, Straßen, das Brandenburger Tor, kein Problem. Berlin ist pleite, und Not kennt kein Gebot, außer eben das höchste.
Und wenn sie dann genug repräsentiert haben, ziehen BMW und Guggenheim weiter. Wie ein Wanderzirkus einfach weiterzieht. Aber hier bleiben keine glücklichen Leute zurück - sondern Betrogene. Wenn es um Entfremdung geht, um die Verkäuflichkeit des öffentlichen Raumes und die wachsende soziale Ungleichheit, dann stehen Institutionen wie BMW und Guggenheim für das Problem, nicht für die Lösung. Man kann die Demonstranten von Kreuzberg nur beglückwünschen: Sie haben verhindert, dass ein unwürdiges Theater in ihrem Bezirk eine Bühne findet.
Die Ideologie der Starken hat sich durchgesetzt
Es ist ja nicht so, dass in einem Land wie diesem heute weniger Geld vorhanden wäre als früher. Im Gegenteil. Das Geld wird immer mehr. Man hat uns nur daran gewöhnt, es anders zu verteilen als früher: von unten nach oben. Das ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Umerziehungsprojekts, einer kulturellen Neuausrichtung. Die Ideologie von der Staatsferne hat das Denken und Sprechen verändert. Die Leute haben vergessen, was Rousseau gelehrt hat:
"Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit."
Die Freiheit, das sind die Märkte und das Gesetz, das ist der Staat. Aber der Staat ist ins Gerede gekommen, und das Heil liegt im Privaten.
Das ist die Ideologie der Starken, derer, die es sich leisten können, auf öffentliche Infrastruktur zu verzichten. Sie haben in einem Generationenprojekt durchgesetzt, dass die Steuern gesenkt wurden. Die Einnahmen, die dem Staat entgingen, wurden durch Schulden ersetzt. Dadurch konnte der Staat seine Leistungen eine zeitlang mehr oder weniger aufrechterhalten. Das war die erste Phase der Umerziehung.
Jetzt kommt die zweite: die Schulden werden zurückgefahren. Weil aber die Steuern nicht erhöht werden, muss sich der Staat zurückziehen. Es bleiben die Schulen auf der Strecke, die Sportplätze, die Freibäder, die Jugendzentren. Es bleibt die Öffentlichkeit auf der Strecke. Man bringt den Leuten seit 30 Jahren bei, dass das der richtige Weg ist.
Und sie glauben es.