Karl Nolle, MdL
spiegel-online, 15:27 Uhr, 02.04.2012
11.000 Ungerechtigkeiten (zum Schlecker-Ruin)
Im Zweifel links - Eine Kolumne von Jakob Augstein
Anton Schlecker hat sein Unternehmen in den Ruin getrieben - das Gesetz hat es ihm erlaubt. Büßen müssen die Beschäftigten. Nötig ist nicht weniger staatliche Intervention im Wirtschaftsleben, sondern mehr.
Was ist Gerechtigkeit? Da gilt, was Augustinus über die Zeit sagte: Wenn niemand danach fragt, weiß man es. Will man es aber einem Fragenden erklären, weiß man es nicht. Einfacher fällt es uns zu erklären, was Ungerechtigkeit ist. Wenn jemand ohne Schuld seine Arbeit verliert, ist das eine Ungerechtigkeit. Und wenn dieses Schicksal 11.000 Frauen auf einen Schlag trifft, dann ist das eine große Ungerechtigkeit. Wenn jedoch ein Politiker diesen Frauen noch hinterherruft, sie sollten sich schleunigst um eine "Anschlussverwendung" kümmern, wie FDP-Chef Rösler es getan hat, haben diese Frauen zum Schaden den Spott dazu, und die Ungerechtigkeit wird zur Sauerei.
Die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit - also wer bekommt was, und ist das gerecht - ist jahrtausendealt. Die deutsche Antwort darauf hat sich in den vergangenen Jahren verschoben. Was meint man denn, wenn man vom "sozialen Abbau" spricht? In Wahrheit nichts anderes als eine moralische Degenerierung. Mit dem Lebensstandard der Armen sinken die Maßstäbe der Reichen. Die große Umverteilung, die wir seit vielen Jahren erleben, bezieht sich nicht nur auf Geld. Nicht nur die materiellen Werte werden von unten nach oben verteilt, sondern auch die moralische Wertigkeit. Wer viel verdient, verdient eben auch viel.
Es ist eine Tatsache, dass diese Umverteilung erfolgt, keine Anschauungssache. Wir haben uns schon so daran gewöhnt, dass wir sie nicht mehr für den Skandal halten, der sie ist. Wo ist das Wachstum der vergangenen 15 Jahre geblieben? An den mittleren Einkommensgruppen ist es vorbeigegangen. Die unteren haben verloren. Nur die oben, die haben gewonnen. Nach Berechnungen des WSI-Tarifarchivs der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sind die durchschnittlichen Bruttolöhne der Beschäftigten real, also nach Abzug der Preissteigerung, zwischen 2000 und 2011 um rund drei Prozent zurückgegangen - erhebliche Verluste seien besonders zwischen 2004 und 2009 aufgelaufen. Das bleibt nicht ohne Folgen: "Wenn sich die Einkommen so unterschiedlich entwickeln, entstehen unterschiedliche Wertvorstellungen", sagt der gewerkschaftsnahe Volkswirt Gustav Horn.
Schlecker ist kein Fall für den Taschenrechner, sondern für das Gesetzbuch
Dabei ist die Ungerechtigkeit beileibe kein notwendiger Teil unseres Wirtschaftssystems. Es ist auf Effizienz hin angelegt. Aber Effizienz und Gerechtigkeit berühren sich nicht. Der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin hat das in der Sprache der Wirtschaftsphilosophie neulich mal so formuliert: "Bei der Verteilung einer gegebenen Gütermenge auf Individuen ist Effizienz vollkommen verteilungsblind." Einfacher gesagt: Wirtschaftlicher Erfolg und gerechte gesellschaftliche Verhältnisse müssen sich durchaus nicht widersprechen.
Wo solch ein Widerspruch aufkommt, steht dahinter eine politische Entscheidung. Dass Schlecker eine Sauerei wurde, ist ein politisches Problem, kein wirtschaftliches. Der Unterschied ist wichtig. Hier geht es nicht um unabänderliche Gesetze der Ökonomie, sondern um vermeidbare Fehler der Politik. Schlecker und das Schicksal der Schlecker-Frauen sind kein Fall für den Taschenrechner, sondern für das Gesetzbuch.
Das Gesetz hat es Anton Schlecker erlaubt, einen Konzern mit rund 30.000 Mitarbeitern und 6,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2010 nach den gleichen Regeln zu führen, nach denen üblicherweise ein Zeitungskiosk geführt wird. Anton Schlecker stand im Handelsregister einfach als eingetragener Kaufmann, der mit seinem gesamten Privatvermögen haftet. Er brauchte keinen Aufsichtsrat, er musste keine Zahlen offenlegen, und einen Insolvenzantrag musste er auch nicht stellen. Die Linkspartei hat neulich noch einmal bei der Bundesregierung nachgefragt, und es wurde bestätigt: Nur juristische Personen unterliegen der Insolvenzpflicht, wenn sie zahlungsunfähig sind, natürliche Personen können machen, was sie wollen. Die Ordnungspolitik hat hier versagt. Anton Schlecker durfte alles mit sich in den Abgrund ziehen, so wie die Banken mit lebensgefährlichen Finanzprodukten hantieren durften. Beide, Schlecker und die Banken, begaben sich da in eine Verantwortung, die sie nicht tragen konnten: Verantwortung für das Gemeinwesen. Und das Gemeinwesen trägt bekanntlich am Ende die Kosten.
Eine solche passive Haltung des Staats hat mit Vernunft gar nichts zu tun, aber sehr viel mit Ideologie. Nicht weniger, sondern mehr staatliche Intervention im Wirtschaftsleben tut Not. Wenn sie das Wort vom Fünfjahresplan hören, denken die Deutschen an die DDR und winken ab. Sie sollten lieber noch weiter nach Osten gucken. "Hier glaubt niemand, dass industrielle Entwicklung automatisch funktioniert", hat Kishore Mahbubani, der west-kritische Politikwissenschaftler aus Singapur, am Wochenende der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gesagt: "Der Staat wird gebraucht."