Karl Nolle, MdL
DNN/LVZ, 16.07.2012
"Ich sehe keine bösartige Absicht" - Sachsens Innenminister Ulbig über die Stimmung beim Verfassungsschutz, auftauchende Akten und Schuldzuweisungen
Dresden. Nach der Entlassung des Verfassungsschutz-Präsidenten Reinhard Boos steht der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) unter Beschuss. Der Umbau im Landesamt soll nun gründlicher ausfallen als geplant, deutet er im Interview an.
Frage: Wie ist gerade die Stimmung im Landesamt für Verfassungsschutz?
Markus Ulbig: Die Stimmung ist im Verfassungsschutz derzeit insgesamt schwierig. Die Kollegen sind dabei, weiter aufzuarbeiten und trotzdem das Tagesgeschäft einigermaßen weiter im Griff zu haben.
Die kürzlich aufgetauchten NSU-Abhörprotokolle werfen die Frage auf, ob nicht nochmal Akten zufällig auftauchen können.
Im Rahmen dieses Gesamtprozesses NSU gab es bundesweit immer wieder Situationen, dass Akten oder Erkenntnisse aufgetaucht sind. Das scheint ein Problem zu sein, das insgesamt existiert. Das Landesamt für Verfassungsschutz hat nun alle Akten noch einmal durchgeschaut. Mittlerweile hat jeder betroffene Mitarbeiter eine dienstliche Erklärung abgegeben, dass darüber hinaus keinerlei Vorgänge in den Tresoren liegen.
Sie fordern einen Philosophiewechsel bei den Geheimdiensten. Inwiefern?
Wir wollen uns aktiv in die laufende Diskussion einbringen. Aus meiner Sicht ist die Stärkung der Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz unerlässlich. Das kann so aussehen, dass, wenn es um gewaltgeneigte Extremisten geht, automatisch das Bundesamt zuständig ist. Zweitens müssen die Verfassungsschutzbehörden viel stärker in die Gefahrenabwehr integriert werden. Wenn wir darüber reden, einzelne Landesämter zusammenzulegen, müssen wir auch über die Effekte nachdenken:
Wie ist das mit der Verantwortung, mit der parlamentarischen Kontrolle?
Auch die Schnittstellenprobleme müssen angegangen werden. Jetzt gibt es die Verbunddatei, in die Informationen von Verfassungsschutz und Staatsschutz einfließen. Aber es wird noch viele Gespräche geben, bis es eine Konstruktion innerhalb des Verfassungsschutzverbundes gibt.
Mit Blick auf Thüringen steht immer noch die Frage im Raum, wer die Verantwortung für das Ermittlungsdebakel zum NSU trägt.
Vielleicht ist es unglücklich gewesen, überhaupt mit solchen territorialen Zuordnungen eine Verantwortungsverschiebung in Gang zu setzen. Das Grundproblem bleibt, dass drei Leute unerkannt bundesweit Morde und Überfälle begangen haben. Und sie haben bei uns in Sachsen gelebt. Jetzt muss man sehen, wo die Gründe liegen, dass sie nicht gefunden worden sind. Jeder muss seinen Teil auf den Tisch legen. Hier geht es nicht um Verantwortungsverschiebung. Die Verantwortung für eine Zielfahndung liegt immer bei dem Land, wo die jeweils Gesuchten gelebt haben. Das war nun mal in diesem Fall das LKA in Thüringen, und dazu hat sich die Schäferkommission auch sehr deutlich ausgesprochen.
Welche Motivation hat denn ein Verfassungsschützer, Akten, die ihn eigentlich nichts angehen, aufzubewahren?
Das wird die Untersuchung noch zeigen. In jedem Mitarbeiterzimmer steht ein Tresor mit Unterlagen. Dass da eine bösartige Absicht dahintergestanden hat, sehe ich derzeit nicht. Eher andersherum. Im Zuge der laufenden Umstrukturierung ist dieser Vorgang gefunden worden. Die Mitarbeiter haben die Akten auf den Tisch gelegt, wohl wissend, dass es eine Riesendiskussion auslösen wird.
Sind Akten vernichtet worden, die nicht hätten vernichtet werden dürfen?
Der Verfassungsschutz agiert ja nicht im rechtsfreien Raum. Es gibt gesetzlich festgelegte Aufbewahrungsfristen, die sind vorgegeben. Regelmäßig werden Aktenbestände durchgeschaut. Wenn personenbezogene Daten nicht mehr notwendig sind, müssen sie gelöscht werden. Das ist gemacht worden. Ganz klar: Das Landesamt für Verfassungsschutz hat versichert, es waren aber keine Akten mit NSU-Bezug.Interview:
Fragen Christine Keilholz