Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 17.08.2012

NSU: Die Helfer der Illegalen

 
Zur Aufklärung der Zwickauer Terrorzelle hatte das Bundeskriminalamt in Wilkau-Haßlau die größte Ermittlergruppe stationiert. Sie fand schnell, was Sachsens Behörden zehn Jahre nicht erkannten: das NSU-Helfernetz.

Bis heute ist unklar, wie Beate Zschäpe am 4. November 2011 erfuhr, dass die Männer tot waren, mit denen sie 13Jahre illegal zusammengelebt hatte. Auf dem von ihr genutzten Handy fand sich kein letzter Anruf, keine letzte SMS. Nur eine bislang unbekannte Nachricht war auf ihrer Mailbox. Vielleicht enthielt sie die Botschaft, mit der sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt von ihr verabschiedet hatten, als sie nach ihrem 14. Banküberfall in einer Eisenacher Plattenbausiedlung im Wohnmobil festsaßen. Polizisten hatten sie entdeckt. Schüsse waren gefallen. Im Fahrzeug der Neonazis lag die Dienstwaffe der Polizistin Michelle Kiesewetter, die im April 2007 erschossen worden war. Sie gilt als letztes Opfer einer Mordserie, der zuvor neun vorwiegend türkischstämmige Gewerbetreibende zum Opfer gefallen waren. Die beiden Männer wussten, die Tatwaffen all dieser Morde lagen in ihrer Wohnung in Zwickau. Wenn man sie schnappen würde, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie als Täter dieser Verbrechen überführt sind. So töteten sie sich selbst. Um kurz nach zwölf hörte Beate Zschäpe an jenem Freitag ihre Mailbox ab und tat, was für diesen Fall verabredet war: Spuren vernichten und abhauen.

Der Schock über den Tod der beiden Männer saß offenbar tief bei der 36-Jährigen. Dafür spricht, dass Zschäpe Fehler machte beim Anzünden ihres Unterschlupfes in der Zwickauer Frühlingsstraße 26, sie öffnete die Fenster nicht. So erstickte das Feuer teilweise, und viele Spuren blieben erhalten. Sie vergaß auch ihre Barschaft von 75.000 Euro, und sie vertippte sich auf ihrem Handy, als sie Richtung Bahnhof lief. Aber sie wusste, auf wen sie sich auch jetzt verlassen konnte. Sie wählte die Nummer von André E. Der Kamerad aus dem Erzgebirge hatte ihnen so oft geholfen. Nachbarn hatten ihn und seine Familie regelmäßig in der Frühlingsstraße gesehen. Auch dieses letzte Mal ließ er sie nicht im Stich. Anhand der Funkzelle, in der E.s Handy eingeloggt war, gehen die Ermittler davon aus, dass er Beate Zschäpe in Zwickau aufsammelte und zum Bahnhof brachte. Hier startete sie ihre letzte Reise durch Deutschland, die schließlich in Jena endete – wo die Neonazikarriere des Terror-Trios begonnen hatte und wo sie Ende Januar 1998 untergetaucht waren.

Konsequentes und schnelles Vorgehen

Wenige Tage nach jenem 4. November 2011 quartierte das Bundeskriminalamt die größte Ermittlergruppe seiner Sonderkommission Trio im sächsischen Wilkau-Haßlau ein. In der Kleinstadt zwischen Zwickau und der A72 räumten die Beamten der örtlichen Polizei extra ihre Schreibtische, um das Revier, einen modernen bogenförmigen Betonbau, den Ermittlern aus Wiesbaden und Dresden zur Verfügung zu stellen. Und was zehn Jahre lang unmöglich erschien, vollzogen Polizei und Bundesanwaltschaft in den folgenden Wochen in erstaunlichem Tempo: Sie gingen konsequent gegen mutmaßliche Helfer vor. Von denen leben viele auch heute in Sachsen. Bis Juni nahm die Soko Trio das Polizeirevier in Beschlag. Derzeit sichtet die Bundesanwaltschaft die Ermittlungsergebnisse und hat zu entscheiden, gegen wen außer Beate Zschäpe noch Anklage erhoben wird. Mit ihr sitzt nur noch einer der mutmaßlichen Helfer in U-Haft. Insgesamt nahmen die Ermittler ein Dutzend Personen in den Kreis der Beschuldigten auf.

Schon zwei Tage nach der Explosion in der Frühlingsstraße, es war Sonntag, erschien Matthias D. bei der Polizei, jener Mann, der die Wohnung angemietet hatte. Er habe erfahren, was passiert sei, sagte der Mann aus Johanngeorgenstadt den Beamten und legte Mietverträge vor. Schon nach seiner Vernehmung deutete sich an, dass hinter dem Terror-Trio eine Reihe von Personen standen, die Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ihre Personalien geliehen hatten. Ohne diese Helfer wäre das Leben des Trios in der Illegalität unmöglich gewesen.

Vor allem die Spurensicherung im Zwickauer Brandschutt und im Wohnmobil in Eisenach, aber auch Gespräche mit Nachbarn stellten die Ermittler zunächst vor ein Wirrwarr an Identitäten, aus denen sich bald die Konturen des Helfernetzwerkes abzeichneten. So lag im Wohnmobil eine Bahncard mit dem Bild von Uwe Böhnhardt, aber ausgestellt auf André E.. Dessen Passbild fanden die Ermittler auch in einem kleinen Kuvert eines Zwickauer Fotostudios, zusammen mit Lichtbildern von Böhnhardt und von Holger G., einem alten Bekannten des Terror-Trios aus Jena. Auf den Bildern tragen alle drei augenscheinlich die gleiche Brille. Auch die Passbilder hatten das Feuer in der Frühlingsstraße überstanden.

Im Wohnmobil fanden Beamte zudem einen Reisepass auf den Namen Holger G., den Böhnhardt genutzt hatte. Dieser Holger berichtete später, dass er den untergetauchten Neonazis sogar eine Pistole übergeben habe.

Im Brandschutt entdeckten Polizisten auch die Geburtsurkunde von Max B. Ein Reisepass mit diesem Namen und dem Passbild von Mundlos hatte wiederum im Wohnmobil gelegen. Von Anwohnern in der Frühlingsstraße und in der Polenzstraße in Zwickau, wo das Trio mehrere Jahre wohnte, erfuhren die Beamten, dass man die drei unter Namen wie Max B., Susann D. oder Susann E., Liese oder Gerry kannte.

Am 24.November 2011 flog eine Spezialeinheit der Polizei ins Brandenburgische, um André E. auf dem Grundstück seines Zwillingsbruders festzunehmen. Auch Matthias D. machte wenige Wochen nach seiner Zeugenaussage als Beschuldigter erneut Bekanntschaft mit einer Sondereinheit der sächsischen Polizei. Er versuchte zu flüchten, musste in einer Notfallambulanz verarztet werden und kam danach in U-Haft.

Hausverbot in Buchenwald

Dass Sachsen zum Fluchtort des Terror-Trios wurde, lag an ausgezeichneten persönlichen Kontakten zwischen thüringischen und sächsischen Rechtsextremisten Ende der 90er-Jahre. Kontakte, wie man sie bei dem rechtsextremen Netzwerk Blood&Honour pflegte, das mit neonazistischer Musik rechte Ideologie verbreitete und Geld verdiente. In Sachsen existierte 1998 laut Verfassungsschutz eine der „bedeutenden Sektionen“ von Blood&Honour. In Thüringen zählten auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zum harten Kern dieser Bewegung. So waren die drei dabei, als Neonazis 1996 in der Gedenkstätte Buchenwald aufmarschierten und Hausverbot erhielten – zusammen mit einem der Köpfe der Blood&Honour-Division aus dem sächsischen Chemnitz.

Eines Tages im Februar 1998 logierten plötzlich zwei Männer und eine Frau in der Wohnung von Max B. in der Limbacher Straße in Chemnitz. Seine damalige Freundin Mandy hatte das Trio bei ihm einquartiert, während er abwesend war. Die Kameraden hätten in Thüringen Mist gebaut und müssten untertauchen, sagte man Max B., der neu war in der Szene und nicht im Visier der Behörden. Bisher ist unklar, wer veranlasst hatte, die drei als Bombenbastler von Jena bekannt gewordenen Neonazis unauffällig unterzubringen. Vermutet wird, dass es einer der führenden Köpfe von Blood&Honour Sachsen war. Ziemlich sicher ist: Das Trio kam ohne große Umwege nach Chemnitz und lebte mehrere Monate bei Max B. Der gab schließlich Mundlos seinen Personalausweis und die Geburtsurkunde. Max B. ist offenbar seit Jahren raus aus der Szene und bereut, was er damals getan hat. Er lebt heute in Dresden.

Zumindest Behörden in Thüringen wussten schnell, dass die Gesuchten mit dem Auto eines befreundeten NPD-Mannes aus Jena nach Sachsen abgetaucht waren. Erfurter Verfassungsschützer erfuhren schon Mitte Februar, dass ein Kamerad das Auto zurückholen musste, weil es in Sachsen in einen Unfall verwickelt war. Es ist nicht bekannt, dass diese Spur weiter verfolgt wurde. Stattdessen trafen die Verfassungsschützer Thüringens und Sachsens damals eine fatale Verabredung: Thüringen wollte sich um die drei Flüchtigen kümmern, obwohl es deutliche Hinweise gab, dass sie sich in Chemnitz aufhielten. Und Sachsen wollte sich auf das Blood&Honour-Umfeld konzentrieren, in dem sich das Trio aufhielt. So steht es im NSU-Bericht des Dresdner Innenministeriums.

In Erfurt erfuhren Beamte, dass Böhnhardt aus Chemnitzer Telefonzellen Jenaer Kameraden anrief, weil das Trio Geldnot hatte. Mundlos äußerte in dieser Zeit in einem Skinhead-Magazin anonym „Gedanken zur Szene“ und beklagte die Disziplinlosigkeit der Kameraden.

In Sachsen kam von diesen Erkenntnissen kaum etwas an. Auch als im November 1999 in Erfurt ein Hinweis eintraf, dass das Trio keine Geldsorgen mehr hatte, da sie „jobben“ würden, tat sich nichts. Tatsächlich hatten Mundlos und Böhnhardt am 6. und 12. Oktober 1999 in Chemnitz ihre ersten beiden Banküberfälle verübt und dabei insgesamt fast 35.000 Euro erbeutet. Sowohl in Erfurt als auch in Dresden geht man heute davon aus, dass die Chemnitzer Polizei wohl eins und eins zusammengezählt hätte, wenn ihr Erkenntnisse aus Thüringen zugänglich gewesen wären. So aber waren auf einigen Überwachungsvideos aus den Banken zwar Böhnhardts markant abstehende Ohren deutlich zu erkennen, aber die Ermittler wussten damit wenig anzufangen.

Aber auch Sachsens Verfassungsschützer mauerten. Sie bekamen im September 1998 eine Information aus Brandenburg. Dem Hinweis zufolge hatte der zeitweilige Chef der Chemnitzer Blood&Honour-Sektion den Auftrag, für die flüchtigen Neonazis Waffen zu besorgen. Außerdem wurde angekündigt, das Trio wolle sich durch Überfälle Geld beschaffen. Die Chemnitzer Polizei hätte mit dem Tipp vielleicht etwas anfangen können, denn in Chemnitz wurden von 1999 bis 2005 sieben Banken überfallen, alle nach dem gleichen Muster.

Im Jahr 2000 leisteten die Sachsen den Thüringern mehrmals Amtshilfe und observierten unter anderem eine Wohnung. Man vermutete, Böhnhardt könnte dort seinen Geburtstag feiern. Etwa eine halbe Minute lang tauchten an der Haustür zwei Personen auf, die Böhnhardt und Zschäpe ähnelten. Aber das konnte nicht sofort überprüft werden, weil die Beamten ihre Videotechnik in einer Wohnung gegenüber zwar in Gang gesetzt hatten, aber dann abgezogen waren.

Viele Informationen, keine Konsequenzen

Aus heutiger Sicht ist erstaunlich: Sächsische Geheimdienstler beobachteten in jener Zeit alle maßgeblichen Köpfe des Blood & Honour-Netzwerkes im Lande, unter anderem wegen ihrer Geschäfte mit der Rechtsrockband Landser, und erfuhren dabei angeblich gar nichts über das Terror-Trio. Führende Neonazis gerieten immer mehr ins Visier der Behörden. Einer von ihnen machte im November 2000 umfangreiche Aussagen beim sächsischen Landeskriminalamt. Als die Polizei seine Wohnung durchsuchte, fanden die Beamten sogar eine Liste mit den Kontaktendaten – auch die von Zschäpe und Mundlos.

Noch ist unklar, ob es den „Drillingen“, wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe auch genannt wurden, in Chemnitz zu heiß wurde. Jedenfalls wechselten sie im Juli 2000 nach Zwickau, wo Matthias D., André E. und dessen Frau Susann zu den wichtigsten Helfern wurden. Die beiden Männer waren zusammen in Johanngeorgenstadt aufgewachsen und in der „Weißen Bruderschaft Erzgebirge“ gewesen. André E. war auch in der Chemnitzer Szene kein Unbekannter. Anfangs wurde er sogar verdächtigt, das NSU-Bekennervideo mit Paulchen-Panther hergestellt zu haben. Doch das lässt sich nicht mehr beweisen, sodass der 32-Jährige im Juni aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Mit einer Anklage muss er dennoch rechnen.

Auch einigen aus der ehemaligen sächsischen Blood & Honour-Sektion stattete die Soko Trio zu Jahresbeginn einen Besuch ab. Aber deren mutmaßliche Straftaten sind inzwischen verjährt. So wird neben Beate Zschäpe und dem wichtigsten Helfer aus Thüringen möglicherweise nur einer aus dem sächsischen Helfernetz auf der Anklagebank sitzen – André E.

Von Thomas Schade