Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 08.09.2012

„Unland, Kurth, Tillich – wacht auf“

 
15.000 Lehrer gehen kurz nach Schulstart auf die Straße. Sie fordern Altersteilzeit und mehr Einstellungschancen für junge Pädagogen. Viele Eltern stehen hinter dem Anliegen.

Ich streike für kleinere Klassen, die Einstellung von mehr jungen Kollegen und einen heimatnahen Einsatz. 40 Kilometer fahre ich täglich zur Arbeit, von Chemnitz nach Freiberg. Außer mir sind an meiner Schule alle Lehrer über 40. Die Bedingungen werden immer schlechter, die Stimmung ist gereizt. Klassenlehrerstunden fallen weg, Nebentätigkeiten wie Aufsichten nehmen zu.
Uschi Kruse redet leise ins Mikrofon, jede Silbe ihrer Wörter betonend. „Wir sind Lehrer und geduldig. Wir sind es gewohnt, den Stoff auch ein viertes Mal zu wiederholen. Wir haben ihn für die CDU- und FDP-Fraktion sogar noch mal aufgeschrieben.“ Plötzlich wird ihre Stimme lauter. Wie zu einem Schüler, der die Hausaufgaben zum x-ten Mal vergessen hat, sagt sie aufgebracht: „Doch irgendwann muss der Stoff doch mal sitzen! Lesen! Zuhören! Merken!“

Die Gymnasiallehrerin und langjährige Vizechefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat auf die richtige Dramaturgie gesetzt. Sie beschreibt auf amüsante Weise, weshalb ihre Gewerkschaft und die Beamtenbund-Tarifunion ihre Mitglieder zum Warnstreik aufgerufen haben, und die 15000 Lehrer auf dem Landtagsvorplatz spenden frenetisch Beifall. Doch die Worte auf der Rednertribüne sollen in der kommenden Stunde schärfer werden.

Scharfe Worte – auch drinnen

Ob Sachsen erst einen Bildungsgau brauche, ehe die Staatsregierung aus dem Dornröschenschlaf erwache, fragt Willi Russ von der dbb-Tarifunion und ruft: „Unland, Kurth, Tillich – wacht auf.“ Markus Baldauf vom Landesschülerrat erzählt von riesigen Klassen, gehetzten Lehrern. Dennoch sagt er denen im Namen der Schüler: „Danke, weil Ihnen die Regierung das verweigert.“ Jens Weichelt, der Vorsitzende des Sächsischen Lehrerverbandes, erklärt, er könne nicht vertreten, dass Lehrer keine Kraftreserven mehr hätten. Er könne nicht vertreten, dass zu viele Schüler in zu kleinen Klassenzimmern lernen müssten. Er könne nichts mehr vertreten – weil er niemanden mehr zur Vertretung fände.

Dem Finanzminister wirft Weichelt Ignoranz vor und beklagt, dass Sachsens Lehrer, die Pisa-Sieger hervorgebracht haben, 22 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer ein bis zwei Gehaltsklassen schlechter als die meisten Lehrer – auch anderer ostdeutscher Länder – eingruppiert seien. Doch den meisten hier gehe es nicht um Geld, sondern um Gerechtigkeit. Die Demonstranten reagieren jubelnd, auch als Uwe Preuss von der GEW ruft, die Belange der Lehrer seien der Regierung doch scheißegal.

Während die Veranstaltung vorm Hohen Haus ihren Fortgang nimmt, geht es in selbigem nach dortiger Dramaturgie weiter. Der Finanzminister bringt den Haushaltsentwurf ein. „Altersteilzeit“, sagt Georg Unland (CDU) dort, „leistet keinen Beitrag zur Sicherung der Unterrichtsversorgung.“ Dem pflichtet CDU-Fraktionschef Steffen Flath bei. In Richtung der Gewerkschaften legt er im Plenum scharf nach: Die sorgten eben massenhaft für Unterrichtsausfall.

Zu den protestierenden Lehrern draußen sagen die Politiker das an diesem Tag nicht. Auch Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) oder Kultusministerin Brunhild Kurth (parteilos) werden vor dem Landtag nicht gesehen. Kurths zurückgetretener Vorgänger Roland Wöller (CDU) hält es indes sehr lange draußen aus.

Von Carola Lauterbach und Anna Hoben