Karl Nolle, MdL

Welt am Sonntag, 23.09.2012

Terrorzelle: Der V-Mann packt aus – Der NSU und ich

 
Thomas S. war mit den Mitgliedern des NSU befreundet – und berichtete als V-Mann an den Berliner Staatsschutz. Jetzt spricht er: über Sprengstoff, den Untergrund und die Liebe zu Beate Zschäpe.

Er hat die drei so gut gekannt wie kaum ein anderer. Thomas S. war ein guter Freund von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Heute kennt jeder die Namen dieses Trios: Als Nationalsozialistischer Untergrund (Link: http://www.welt.de/nsu) zogen die Rechtsextremen (Link: http://www.welt.de/themen/rechtsextremismus) mordend durch Deutschland. NSU steht für Banküberfälle, Sprengstoffanschläge, zehn Hinrichtungen.

"Von alldem habe ich nichts mitbekommen", sagt Thomas S. der "Welt am Sonntag" bei einem Treffen in Dresden. Nichts mitbekommen? Dabei war der heute 44-jährige Sachse vor dem Abtauchen der Thüringer sogar der Liebhaber von Zschäpe, dem einzigen NSU-Mitglied, das noch lebt.

Dabei besorgte er im Auftrag von Mundlos 1,1 Kilogramm Sprengstoff, einen Schuhkarton voll mit TNT. Dabei war er die erste Anlaufstation, als das Trio im Januar 1998 in den Untergrund ging.

Geschichte wird zum Politikum

Kein Wunder, dass Thomas S. gleich nach dem Auffliegen der Zwickauer Zelle im vergangenen November ins Visier der Fahnder geriet. Im Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft ist er einer der 13 Beschuldigten. Doch mittlerweile teilt die Karlsruher Behörde mit: Der Anfangsverdacht gegen Thomas S. habe sich "bislang nicht vertiefen" lassen. Damit könnte die Sache eigentlich beendet sein. Tatsächlich aber ist die Geschichte von Thomas S. zum Politikum geworden.

Er war nicht nur sieben Jahre lang ein Freund des Trios. Später berichtete er dann als V-Person an den Berliner Staatsschutz. Die Quelle "VP 562" soll – und hier wird es brisant – mindestens fünf Hinweise zur Terrorzelle und ihrem Umfeld gegeben haben. Am 13. Februar 2002 berichtete S., einer seiner Freunde habe ihm von dessen Kontakt zu "drei Personen aus Thüringen" erzählt, die wegen Waffen- und Sprengstoffdelikten "per Haftbefehl gesucht" würden. War das die Spur, mit der man das Morden hätte stoppen können? Keiner weiß es.

Die Berliner jedenfalls behielten damals die Informationen nach derzeitigem Erkenntnisstand für sich, gingen den Hinweisen nicht energisch genug nach, zählten nicht eins und eins zusammen. Doch das ist nur der Auftakt der Affäre. Aktuell gerät nicht nur deshalb der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) in Erklärungsnot.

Merkel erhöht den Druck

Vor ein paar Tagen hatte der Christdemokrat im Abgeordnetenhaus den Eindruck erweckt, als habe er von der V-Person aus dem Umfeld der NSU-Terroristen erst soeben erfahren. Das stimmt nicht. Bereits im März war Henkel von seiner Polizei informiert worden. Dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages sagte der Senator allerdings nichts über den heiklen Vorgang.

Henkel verteidigte sich damit, dass der ermittelnde Generalbundesanwalt ihn gebeten habe, die Akten zunächst nicht weiterzugeben. Prompt widersprach die Karlsruher Behörde – und Henkel geriet in noch stärkere Erklärungsnot.

Inmitten dieser Berliner Chaostage erhöhte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Druck: Sie sagte, die Aufklärung der Ermittlungspannen rund um den NSU laufe "an einigen Stellen nicht so, wie wir das für richtig halten". Daraus müssten Konsequenzen gezogen werden.

Man kann dies auch als Rüffel für den Parteifreund verstehen. Warum ist noch nicht aufgeklärt, dass die Berliner Unterlagen zu S. unerklärliche Lücken aufweisen? Hat ihm seine Polizei überhaupt die Wahrheit über den Fall gesagt? Welche Verantwortung trägt Henkel? Das sind große Fragen. Dabei ist immer noch nicht ganz klar, wer Thomas S. eigentlich ist.

Er war schon in der DDR Informant

Bis zu seinem Ausstieg aus der rechten Szene vor zwölf Jahren hatte der gelernte Schlosser ein verkorkstes Leben geführt. Schon zu DDR-Zeiten. Da war Thomas S. eine große Nummer im damaligen Karl-Marx-Stadt und nahm eine führende Stellung in "negativ dekadenten" Fankreisen des lokalen Fußball-Oberligisten ein, die keiner Schlägerei aus dem Weg gingen.

Das geht aus Stasi-Papieren hervor, die der "Welt am Sonntag" vorliegen. Darin steht, es sei aus dem "Verbindungskreis des S. zu strafbaren Handlungen nach § 220 StGB (Äußerung von faschistischen Parolen und Singen des ,Deutschlandliedes' in der Straßenbahn)" gekommen.

Auch S. berichtete damals laut den Dokumenten über die Fans des Fußballklubs. Demnach war er ein Informant der berüchtigten Polizeiabteilung K 1 des Innenministeriums, die ihn seit April 1986 unter dem Decknamen "Frank Schwarz" führte. Die Berliner Polizei hatte später keine Ahnung davon, dass sie es mit einem früheren DDR-Informanten zu tun hatte.

Nach dem Fall der Mauer radikalisierte sich Thomas S. Er wurde Mitglied der Skinhead-Gruppierung C 88 und der sächsischen Sektion des internationalen Neonazi-Netzwerks von Blood & Honour. Schnell reihten sich die Straftaten aneinander: schwere Brandstiftung, Verstoß gegen das Waffengesetz, Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung. Viel passierte unter Alkoholeinfluss.

Er musste zweieinhalb Jahre ins Gefängnis im sächsischen Waldheim. Weil er danach eine CD der Neonazi-Band "Landser" mitproduzierte und vertrieb, kam er erneut mit dem Gesetz in Konflikt. Und dann noch der enge Kontakt zu den späteren Mitgliedern des NSU.

Jetzt holt in seine Vergangenheit ein

Mit dem Ausstieg aus der Szene endete die kriminelle Karriere. Er gründete eine Familie, arbeitete hart. Im Jahr 2005 erhielt S. noch wegen der "Landser"-Geschichte eine Bewährungsstrafe. Doch das verhinderte nicht, dass er zwei Jahre später für einen neuen Job durch eine Sicherheitsüberprüfung vom Bundesamt für Verfassungsschutz kam.

Im Jahr 2009 traf er sich das letzte Mal mit einem Mitarbeiter des Berliner Staatsschutzes. Jetzt holt ihn seine Vergangenheit wieder ein.

Donnerstagabend in Dresden. Thomas S. kommt zu dem abgesprochenen Treffpunkt mit dem Rad. Er ist völlig aufgelöst, zittert. Ein Fernsehteam habe ihm gerade nachgestellt. Er könne jetzt unmöglich ein Interview führen. Man redet. Über seine turbulente letzte Woche. Seinen Ausstieg aus der rechtsextremen Szene. Und über seine Zeit mit dem späteren NSU. Das ist alles lange her. Plötzlich aber hat es ihn wieder eingeholt. Schließlich möchte er der "Welt am Sonntag" doch seine Version erzählen.


Welt am Sonntag: Ihr Name steht in jeder Zeitung. In Berlin hat der Umgang mit Ihrer Person eine innenpolitische Krise ausgelöst. Wie nehmen Sie den Aufruhr um sich wahr?

Thomas S.: Ich kann den Wirbel nicht verstehen. Wenn man die Zeitung aufschlägt, muss man ja denken, ich sei schlimmer als die drei. Ich habe mich vor zwölf Jahren endgültig aus der rechten Szene verabschiedet. Was ich davor getan habe, ist schlimm. Es ist aber ein Teil meines Lebens, den ich nicht mehr rückgängig machen kann.

Welt am Sonntag: Sie haben als V-Person des Berliner Staatsschutzes ab November 2000 unter anderem einen Hinweis auf drei Personen aus Thüringen gegeben, die per Haftbefehl wegen Waffen- und Sprengstoffdelikten gesucht werden. Wussten Sie, wo sich die Mitglieder der Zwickauer Terrorzelle befanden?

S.: Nein. Ich bin damals ja selbst nicht auf die Idee gekommen, dass hinter den Informationen des Freundes ausgerechnet die drei Personen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt stecken könnten. Ich bin davon ausgegangen, dass sich das Trio wenige Monate nach dem Abtauchen ins Ausland abgesetzt haben muss.

Welt am Sonntag: Sind Sie bereit, das im Untersuchungsausschuss auszusagen?

S.: Noch bin ich einer der Beschuldigten im Ermittlungsverfahren der Karlsruher Bundesanwaltschaft. Solange werde ich nicht mit dem Untersuchungsausschuss sprechen.

Welt am Sonntag: Was war für Sie die Motivation, fast zehn Jahre lang als V-Person für die Berliner Polizei tätig zu sein? Sie waren doch aus der Szene ausgestiegen.

S.: Darüber will ich nichts sagen.

Welt am Sonntag: Haben Sie eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet?

S.: Kein Kommentar.

Welt am Sonntag: Eine Anklage in Ihrem Fall ist mehr als unwahrscheinlich, weil alles verjährt ist.

S.: Ich fühle mich auch nicht schuldig. Ich habe der Bundesanwaltschaft alles gesagt, was ich weiß.

Welt am Sonntag: Uns liegen die Akten Ihrer Vernehmung vor. Danach haben Sie das Jenaer Trio schon 1991 oder 1992 kennengelernt. Wie war das?

S.: Ich war mit Freunden aus Chemnitz in Thüringen auf einem Konzert der Band "Oithanasie". Wir haben da alle zusammen gefeiert und getrunken. Da habe ich die drei zum ersten Mal getroffen. Die Thüringer waren anders drauf als wir Chemnitzer, viel politischer. Die hatten viel mit Demos im Kopf.

Welt am Sonntag: Unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und schwerer Brandstiftung waren Sie kurz darauf zweieinhalb Jahre inhaftiert.

S.: Im Gefängnis wurde mein Kontakt zu den drei sogar noch enger. Die haben Kontakt zu mir gehalten, mich besucht, immer als Gruppe. Sie haben auch Briefe geschrieben. Unterschrieben waren sie mit "Deine drei Jenaer".

Welt am Sonntag: Nach Ihrer Entlassung im Jahr 1996 sind Sie und Beate Zschäpe sich nähergekommen. Wie kam das?

S.: Es hat mich fasziniert, dass sie kein szenetypisches Mädel mit abrasierten Haaren gewesen ist. Die hatte ganz normale Klamotten an. Und das Aussehen hat natürlich auch eine Rolle gespielt. Gefunkt hat es dann auf einer Party in Chemnitz. Es war keine richtige Beziehung, sondern eher eine Affäre. Ich hätte mir allerdings mehr gewünscht. Mit ihr gab es in der Öffentlichkeit keinen Kuss, kein Händchenhalten. Manchmal war vier Wochen lang Funkstille, und fast immer hatte sie die anderen beiden dabei. Sie hatte immer nur die beiden Uwes im Kopf. Da habe ich gemerkt, das wird nichts.

Welt am Sonntag: Wie blicken Sie heute auf diese Beziehung zurück?

S.: Im Nachhinein kann ich mir vorstellen, dass es ihr nur darum ging, über mich an Leute für Demonstrationen und Sachen für Aktionen heranzukommen.

Welt am Sonntag: Sie meinen zum Beispiel die 1,1 Kilo TNT-Sprengstoff, die Sie besorgt und in einem Schuhkarton weitergegeben haben?

S.: Der Auftrag dazu kam von Mundlos. Ich habe das gemacht, um mir etwas zu beweisen – und sicherlich auch, um Beate zu imponieren.

Welt am Sonntag: Auch als nichts mehr lief, hielt der Kontakt. Nachdem die drei am 26. Januar 1998 vor der Polizei aus Jena geflüchtet waren, kamen sie schnurstracks zu Ihnen nach Chemnitz. Fortan lebten sie im Untergrund.

S.: Die haben gesagt, dass sie Ärger mit der Polizei haben. Eigentlich nahmen die das ganz lustig. Ich habe ihnen angeboten, dass sie bei mir schlafen können. Das wollten sie nicht. Deshalb habe ich sie bei einem Freund einquartiert.

Welt am Sonntag: Gut zwei Wochen später haben Sie Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt besucht.

S.: Da ist der Mundlos ausgerastet, weil ich ein Handy dabeihatte. Der war paranoid, irre. Er schrie: "Verschwinde!" Mundlos dachte, man würde uns orten. Er riss den Akku aus dem Gerät und schmiss ihn durch die Gegend. Das letzte Mal habe ich das Trio dann im April oder Mai 1998 gesehen.

Welt am Sonntag: Danach haben Sie nichts mehr von Ihren langjährigen Bekannten mitbekommen? Die sind doch erst im Juli 2000 weg nach Zwickau gezogen.

S.: Ich habe nichts mehr gehört, obwohl in der Szene immer viel geredet wurde. Das war extrem geheim. Auch auf Nachfragen von Freunden kam nichts. Dabei war einer ihrer Vertrauten ein guter Bekannter von mir, wie ich heute weiß.

Welt am Sonntag: Die spärlichen Informationen haben Sie dann der Berliner Polizei gegeben. Es gibt jedoch das Gerücht, dass Sie auch für andere Sicherheitsbehörden V-Mann waren. Stimmt das?

S.: Nein, das ist falsch. Der sächsische Verfassungsschutz wollte mich zwar anwerben. Das habe ich aber abgelehnt. Das Gespräch an der Haustür dauerte keine Minute.

Welt am Sonntag: Sie haben früher allerdings schon einer anderen Behörde Informationen geliefert. Als Informant der K 1, jener Polizeiabteilung des DDR-Innenministeriums, die das Verbrechen mit Stasi-Methoden bekämpft hat. Da erzählten Sie über Aktionen, an denen Sie selbst beteiligt waren.

S.: Ich habe bei den "Satan Angels" mitgemacht, einer Fangruppierung des damaligen Oberligisten FC Karl-Marx-Stadt.

Welt am Sonntag: In den Akten heißt es, Sie hätten eine führende Stellung eingenommen – und Schlägereien mit Discobesuchern, Friedhofsschändungen und Sachbeschädigungen an Autos organisiert. Und im Anschluss haben Sie über Ihre Gesinnungsgenossen berichtet?

S.: Die Polizisten haben mich immer mal wieder aufgesucht. Dass sie mich als Informanten geführt haben, wusste ich nicht. Die haben ganz schön Druck gemacht. Das ist nicht so wie heute, wo man sagt, da gehe ich jetzt nicht hin. Da hieß es: Wir reden jetzt ein bisschen. Und wenn Du den Mund nicht aufmachst, gibt es eins auf die Fresse. Man hatte gar keine andere Chance.

Von Manuel Bewarder und Uwe Müller