Karl Nolle, MdL
spiegel-online, 13:02 Uhr, 13.05.2014
OECD kritisiert unsoziale Wirtschaftspolitik in Deutschland
Riskante Rentengeschenke, wachsender Niedriglohnsektor, Energiewende auf Kosten der Verbraucher: Im neuen Wirtschaftsbericht der Industrieländerorganisation OECD für Deutschland steckt jede Menge Kritik. Vom Wachstum in der Bundesrepublik müssten mehr Bürger profitieren.
Hamburg - Die Industrieländerorganisation OECD ist nicht gerade als linksradikal bekannt. Zu ihren Zielen gehören eine "starke und blühende Wirtschaft " sowie eine "fortschreitende Ausweitung des Welthandels".
Umso mehr müsste Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) eine Kernbotschaft des Wirtschaftsberichts zu Deutschland aufhorchen lassen, der ihm am Dienstag von OECD-Generalsekretär José Ángel Gurría überreicht wird: Deutschland solle ein "ausgewogeneres, sozial inklusives und umweltfreundlicheres Wachstum fördern", heißt es in dem Bericht, der SPIEGEL ONLINE vorliegt.
Ihre Aufforderung verbinden die Autoren mit konkreter Kritik an der Regierungspolitik:
Steuersystem:
Union und SPD konnten sich im Koalitionsvertrag auf keine Steuerreform einigen, die Diskussion über eine Eindämmung der sogenannten kalten Progression droht im Sande zu verlaufen. Die OECD fordert, das Steuersystem müsse stärker auf Wachstum ausgerichtet sein, von dem alle Bevölkerungsschichten profitieren. Vor allem für die wachsende Zahl von Geringverdienern sollten die Sozialversicherungsbeiträge sinken. Im Gegenzug könnte die Grundsteuer erhöht werden - ein Schritt, den Ökonomen auch zur Eindämmung der Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt empfehlen. Außerdem sollten dem Bericht zufolge Gewinne aus dem Verkauf von nicht privat genutzten Immobilien besteuert werden. Schließlich kämen eine generelle Anhebung der Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkünfte sowie eine Ausweitung der Erbschaftsteuer in Betracht.
Rentenreformen:
Die geplante Mütterrente sowie die Rente mit 63 gehören zu den wichtigsten Projekten von Schwarz-Rot. Die OECD kritisiert, dass diese Reformen mittelfristig durch höhere Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden. Das werde tendenziell einen "dämpfenden Effekt" auf den Arbeitsmarkt haben und zudem nicht dem Risiko von Altersarmut entgegenwirken. Es wäre sinnvoller, solche Reformen über das allgemeine Steueraufkommen statt über Sozialabgaben zu finanzieren. Denn im internationalen Vergleich ist die Steuern- und Abgabenbelastung für deutsche Arbeitnehmer schon heute hoch - auch für Geringverdiener und Alleinerziehende (siehe Grafik).
Umweltschutz:
Mit der Energiewende sieht sich die Bundesregierung gerne als umweltpolitischen Vorreiter. Tatsächlich hat Deutschland laut OECD "verlässliche Anreize" für eine CO2-Minderung geschaffen, Privathaushalte sähen sich jedoch "inzwischen mit Strompreisen konfrontiert, die deutlich höher sind als in den meisten Nachbarländern".
Viele Unternehmen bleiben dagegen dank des Einsatzes von Wirtschaftsminister Gabriel weiterhin von der EEG-Umlage befreit. Die Autoren schlagen vor, diese Privilegien schrittweise abzuschaffen. Zudem bestehe bei Umweltsteuern Spielraum für höhere Einnahmen - etwa durch eine Ausweitung der Lkw-Maut auf Personenwagen. Eine Pkw-Maut nur für Ausländer, wie sie die CSU fordert, sei aber mit "erheblichem Verwaltungsaufwand" verbunden.
Von der aktuellen Lage in Deutschland zeichnet die OECD ein durchaus positives Bild. Die deutsche Wirtschaft habe sich in den jüngsten Krisen als "bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen", die Zeichen stünden auf Erholung. Auch die Einkommensungleichheit sei geringer als in den meisten anderen Industrieländern.
Doch die OECD versteht sich immer auch als Mahnerin vor künftigen Risiken. Dazu zählt sie, dass der soziale Aufstieg vor allem für Deutsche aus einkommensschwachen Haushalten seit Ende der Neunzigerjahre schwieriger geworden ist. Das liegt auch an den Vermögen: Im Gegensatz zu den Einkommen sind diese deutlich ungleicher verteilt als in anderen europäischen Ländern. Um den Aufstieg über Bildung zu erleichtern, fordert die OECD mehr Geld für Schulen mit vielen Schülern aus sozial schwachen Verhältnissen.
In einem Punkt kann Gabriel sich über Lob freuen: "Die Pläne der Bundesregierung zur Einführung eines allgemeinen Mindestlohns sind zu begrüßen", heißt es in dem Bericht. Dieser könne "ein wirkungsvolles Instrument darstellen, um die Löhne am unteren Ende der Verteilung anzuheben, ohne die Beschäftigungsaussichten zu beeinträchtigen". Nach dem Willen der Berliner Koalition soll im kommenden Jahr ein Mindestlohn von 8,50 Euro eingeführt werden.
Doch bei allem Lob für linke Projekte wie den Mindestlohn: Die OECD bleibt auch ihrer Rolle als Vorkämpferin für Liberalisierung treu. So soll beispielsweise die Deutsche Bahn gezwungen werden, mehr Konkurrenz auf der Schiene zuzulassen. "Erhebliches Potenzial" sehen die Experten auch bei SIM-Karten, welche bislang nur durch die Inhaber von Mobilfunkfrequenzen verkauft werden dürfen. Dieses Monopol sollte laut OECD fallen - auch weil der Mobilfunk zunehmend für die Kommunikation zwischen Maschinen genutzt wird.
Von David Böcking