Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 18.05.2014

„Loslassen zum richtigen Zeitpunkt“ - Die SZ stellt langjährige Abgeordnete vor, die aus dem Landtag ausscheiden. Karl-Heinz Gerstenberg geht ohne Stress.

 
Karl-Heinz Gerstenberg hat 14 Jahre im Landtag erlebt. 1994 flogen die Grünen raus, zehn Jahre später zogen sie wieder ein. Seither organisiert Gerstenberg als parlamentarischer Geschäftsführer den Betrieb – bis zur Wahl. Der 62-Jährige tritt nicht wieder an. Viele in der Partei vermissen ihn schon jetzt und bereiteten ihm einen fulminanten Abschied.

Irgendwann haben sie ihn auf Schultern getragen. Als die Stimmung in dem italienischen Lokal unweit des Landtags auf Feiern umschlug. Es war spät am Wahlabend 2004. Die Grünen lagen knapp unter der Fünf-Prozent-Marke. Doch in einer Dresdner Hochburg musste nachgezählt werden. Gegen 22.30 Uhr war klar: Die Partei schafft es ins Parlament – mit 5,1 Prozent der Stimmen.

Eine frühe Konsequenz des Erfolgs bekam der damalige Grünenchef Karl-Heinz Gerstenberg körperlich zu spüren. Parteifreunde zerrten ihn hoch, trugen ihn wie einen Pokalsieger durch den Raum. Zehn Jahre außerparlamentarische Opposition waren vorüber. Zehn Jahre, in denen Gerstenberg die sächsischen Grünen nach außen repräsentierte, mit zwei, drei Verbündeten quasi am Leben hielt. Ohne ihn, dachten viele, wäre der Landtagseinzug womöglich gescheitert.

Zehn Jahre später sitzt Gerstenberg im zweiten Stock des Parlamentsgebäudes und blickt auf die Elbe. Äußerlich verändert hat er sich kaum, noch immer trägt er den markanten Schnauzbart, noch immer ist er schlank. Ab Herbst gehört der 62-Jährige dem Landtag nicht mehr an.

Er soll einen Rückblick wagen auf 14 Jahre Parlamentsarbeit. Es ist ihm spürbar unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen. „Ich bin eigentlich ein zurückhaltender Mensch“, sagt der gebürtige Grimmaer. Und versichert wenig später, dass es tatsächlich nur ein einziges Mal war, dass er sich auf Schultern tragen ließ.

Gerstenberg hat als Politiker viel erlebt. Der wissenschaftliche Mitarbeiter im Dresdner Zentrum für Mikroelektronik stieß 1989 zur Bürgerrechtsbewegung Demokratie Jetzt. Im Jahr darauf wurde der promovierte Ingenieur in den Nachwendelandtag gewählt. Das Parlament hatte damals eine andere Debattenkultur. „Wir haben über die Fraktionsgrenzen hinweg miteinander geredet“, sagt Gerstenberg.

Anträge der Opposition erhielten eine Chance. Der Umgang sei ungeachtet politischer Konkurrenz von Respekt geprägt gewesen. Die vielen Ingenieure in den fünf Fraktionen hätten sachlich, gründlich und wenig polemisch zusammengearbeitet, erinnert sich der Abgeordnete.

Zum Ende der damals vierjährigen Legislatur folgte Gerstenbergs politischer Tiefpunkt. Die Grünen flogen aus dem Landtag. Schon bei der Kandidatur 1990 habe er gewusst, dass er in diesem Fall nicht mehr in seinen Beruf zurückkehren kann. „Die Mikroelektronik hat sich rasant weiterentwickelt.“ Der dreifache Familienvater wurde – zunächst ehrenamtlich – Parteichef, später Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Antje Hermenau, die heute Fraktionsvorsitzende in Sachsen ist.

Job für Alphatiere?

Seit dem Wiedereinzug 2004 sitzt Gerstenberg an einer anderen Schaltstelle der Grünenpolitik. Als parlamentarischer Geschäftsführer koordiniert er die zweitkleinste Oppositionsfraktion. 60 Stunden pro Woche arbeitet er locker. Ein harter Job, einer, denkt man, für hemdsärmelige Macher, Strippenzieher, laute Alphatiere.

Gerstenberg allerdings ist ein ruhiger, stiller Mensch. Als Stärke nennt er die Eigenschaft, andere ernst nehmen zu können. „Das wird belohnt durch Zuhören.“ Gerstenberg gilt als gründlich, nicht aber als Pedant. Er ist im Ton freundlich, keiner, der brüllt, kein Beißer. „Kalle“, wie sie ihn intern nennen, schafft es, den Betrieb zu organisieren, ohne andere zu brüskieren. Im oft rauen, stressbehafteten Politikalltag ist das selten.

Demoskopen sehen die Grünen derzeit bei sechs Prozent der Stimmen. Gerstenberg ist natürlich zuversichtlich, dass sie es wieder in den Landtag schaffen. Auch ohne ihn. Im Sommer hat er nach Gesprächen mit seiner Frau entschieden, nicht mehr anzutreten. Nominiert worden wäre er mit Sicherheit. „Die Kunst besteht darin loszulassen. Und das zum richtigen Zeitpunkt.“

Nicht alle Abgeordneten-Karrieren enden so harmonisch. Auf dem Chemnitzer Parteitag erhielt Gerstenberg im März einen fulminanten Abschied. Mit Ovationen, einer Rede des langjährigen Landesgeschäftsführers Andreas Jahnel und Bildern, die unterlegt waren mit einem Song von Bruce Springsteen. Das hymnische „We take care of our own“ ist ein hintergründiger wie kritischer Appell, die Dinge selbst so zu gestalten, damit sie gut werden – und Gerstenbergs Handyklingelton.

Er, der nach drei Landtagsperioden keinen Finanzdruck haben dürfte, will sich stärker der Familie widmen, lesen, Theater besuchen. Und Politik? Es gibt da die grüne Landesarbeitsgemeinschaft Kultur wieder. Und damit einiges zu tun für Gerstenberg.

Von Thilo Alexe