Karl Nolle, MdL
spiegel online, 15:09 Uhr, 21.09.2014
"Die Große Koalition kann zum Dauerzustand werden" - Debattenbeitrag von Jürgen Trittin
Ex-Grünen-Vormann Trittin warnt: Mit dem Aufstieg der AfD könnten Koalitionen links der Mitte unmöglich werden. Für SPIEGEL ONLINE fasst er hier die Thesen seines neuen Buches "Stillstand - Made in Germany" zusammen.
Wir Deutschen wollen mehr Gerechtigkeit, mehr Klimaschutz, mehr Bildung. Wir finden zu viel Ungleichheit schlecht, halten die Verteilung des Wohlstands für ungerecht und stehen einem ungezügelten Markt kritisch gegenüber. Wir finden, dass Wachstum nicht alles ist und halten den modernen Finanzmarkt für ein großes Übel. Am Wahltag aber wählt die Mehrheit rechts, obwohl sie sich links bekennt.
Es ist paradox. Wir wissen, was wir ändern müssen. Die meisten von uns sind dafür. Dennoch trauen wir uns nicht, vom altbekannten Weg abzuweichen. Mit Karl Valentin gesagt: "Mögen hätte ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut."
Die Story von der erfolgreichen Wirtschaftsnation im globalen Wettbewerb ist bei aller Geschmeidigkeit der Angela Merkel das Geheimnis ihres Erfolgs. Der Appell an den verdrucksten deutschen Kollektivegoismus ist - wie auch die Angst vor "den anderen" - archaisch. Er sollte in unserer Zeit keinen Platz mehr haben. Er verleitet dazu, zu vergessen, wovon wirtschaftlicher Erfolg heute abhängt, wie verflochten und international Wirtschaft heute funktioniert, wer alles an den Produkten mitarbeitet, die aus Deutschland stammen, wie viel wir anderen verdanken und wie stark unser Wirtschaftswunder vom Wohlergehen anderer Volkswirtschaften abhängt. Und er widerspricht in vielerlei Hinsicht dem, was wir Deutsche eigentlich denken und wollen, wie wir uns sehen und wie wir gesehen werden wollen.
Heute ist es für viele Menschen, gerade wirtschaftlich Schwächere, schwer geworden, dem Begriff "Reform" etwas Gutes abzugewinnen. Viel zu oft war Reform ein Synonym für sozialen Rückschritt und Ausschluss aus der Gesellschaft. Reform heute ist neoliberal aufgeladen, es steht für Deregulierung, für weniger Sicherheit, mehr Armutsrisiko und weniger Demokratie. Diese reale Erfahrung hat die Angst vor Veränderung erhöht. So haben Konservative leichtes Spiel. Das Bittere ist: Für diese Diskreditierung von Veränderung, für die Umdeutung von Reform sind auch Regierungen der linken Mitte mitverantwortlich.
Links reden, rechts wählen - das ist keine deutsche Marotte. Als Folge der Finanzkrise wurden in Europa erst einmal reihenweise konservative und wirtschaftsliberale Regierungen gewählt. Gerade dort, wo die Krise wirklich zugeschlagen hat, zeigte sich wieder einmal: Krisen sind keine guten Zeiten für eine Politik der linken Mitte.
Die nicht nachhaltige Nutzung der globalen Ressourcen, der anhaltende Klimawandel und ein deregulierter Finanzkapitalismus bedrohen unser aller Zukunft. Wir brauchen deshalb eine große ökonomische und ökologische Transformation. Dafür müssen wir den Stillstand made in Germany überwinden.
Sicher, wir können die Probleme der Welt nicht auf einmal hier in Deutschland lösen. Doch wir können und müssen zur globalen Transformation Entscheidendes beitragen. Für eine solche Transformation bedarf es breiter gesellschaftlicher Bündnisse - und am Ende auch politischer Mehrheiten. Dafür brauchen wir eine Strategie des ökologischen Materialismus.
Ökologie ist nicht "postmateriell"
Ökologische Transformation ist nur machbar, wenn es dabei fair und gerecht zugeht. Der Kern der ökologischen Botschaft ist eine Gerechtigkeitsbotschaft. Sie zielt auf gerecht verteilten Zugang zu begrenzten Ressourcen, zu Lebenszeit und Lebenschancen über Generationen hinweg. Das ist politische Ökologie. Ihre Wertentscheidung ist die Grundlage für eine populäre Strategie der linken Mitte. Nur wenn es gerecht zugeht, wird es einen ökologischen Wandel geben. Ökologie ist nicht "postmateriell". Ökologischer Materialismus will die gerechte Verteilung von Luft, Wasser, Nahrung und Gesundheit.
Die Machtverhältnisse in Deutschland sind komplex. Selbst der mächtigste Einzelpolitiker im Lande, der oder die Bundeskanzlerin, ist von unzähligen Akteuren und Faktoren abhängig, kaum einmal völlig frei in einer Entscheidung. Wer unter den heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umständen von Macht redet, muss von der Macht des Finanzmarkts sprechen, von der Macht der großen Unternehmen und Konzerne, von der Macht der Verbände und Lobbys, von der Macht der Medien - und der Macht der Zivilgesellschaft. Im Zusammenspiel all dieser Akteure bilden sich die Machtverhältnisse in Deutschland heute. Und all das ist die Politik von heute.
Politikverdrossenheit ist heute auf der Rechten wie auf der Linken zu finden. In ihrem Wesen aber ist sie tendenziell rechts. Die Linke braucht politische Mobilisierung viel mehr als ein konservativ-neoliberales Projekt. Die Linke will Transformation über engagierte Bürgerbewegungen, öffentlichen Druck und demokratische Gesetzgebung durchsetzen. Die Rechte will nichts verändern und lässt den Markt machen. Dazu braucht sie eine bescheidene, zurückhaltende Politik. Politikverdruss hilft ihr. Eine Politik der Repräsentation, der Untätigkeit, der Symbole und der Scheinaktivität genügt ihr. Für die ökologisch-soziale Transformation ist Politikverdrossenheit Teil der großen Zukunftsblockade.
Und sie findet Ausdruck in einer großen Koalition. Klar, sie ist gewählt, aber sie entsteht, weil es keine klaren Mehrheiten in der einen oder anderen Richtung gibt. Die Große Koalition organisiert dann genau diesen Zustand der Unentschiedenheit. Ergebnis: Das allermeiste bleibt, wie es ist.
"In Österreich diktieren die Rechtspopulisten die Themen"
Und das droht angesichts des Aufschwungs der Rechtspopulisten von der AfD zum Dauerzustand auch für Deutschland zu werden. In Österreich kann besichtigt werden, wohin dies führen kann. Eine jahrzehntelange Große Koalition hat dort die FPÖ stark gemacht. Sie regiert nicht mehr. Aber sie diktiert SPÖ wie ÖVP die Themen.
Der Stillstand einer Großen Koalition kann in einer Rechtsverschiebung enden - verbunden gar mit einer strukturellen Unmöglichkeit, überhaupt noch Mehrheiten links der Mitte zu erreichen. Auch hier gilt: Nichtstun ist keine Alternative. Wollen wir eine rechte Mehrheit verhindern, müssen wir den Stillstand der Großen Koalition überwinden.
Deutschland wird im Biedermeier 2.0 nicht seine Zukunft gestalten können. Wirtschaftskönig, Exportweltmeister ist man nur, solange auf den globalen Märkten Nachfrage besteht. Ein sich beschleunigender Klimawandel und eine wachsende Ungleichheit stellen die Grundlagen des globalisierten Kapitalismus selbst infrage. Wir haben das Wissen, wir haben die Technologien, wir haben die wirtschaftliche Kraft, umzusteuern - in Deutschland und in einem gemeinsamen Europa. Und wir haben eine gesellschaftliche Mehrheit gegen Klimawandel und Ungleichheit.
An einer Mehrheit der linken Mitte zu arbeiten - das ist nicht nur Aufgabe einer oder mehrerer Parteien. Es ist die Herausforderung aller Kräfte, denen Klimawandel und Ungleichheit nicht egal sind. Wenn wir aus Einstellungen nicht politische Mehrheiten machen, dann droht die Große Koalition eine Große Koalition zur Nachfolgerin zu haben. Der Stillstand made in Germany würde zum Dauerzustand. Doch wenn wir die Politik nicht ändern, dann werden sich Klimawandel und Ungleichheit weiter verschärfen.
Und es droht ein weiterer Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte. Die Krise und die nachfolgenden Verteilungskämpfe haben sie in Europa heute schon sehr stark gemacht.
Von Jürgen Trittin