Karl Nolle, MdL

SAX Dresdner Stadtmagazin Nr.10/2014, 22.10.2014

Freiheit, die wir nicht meinen - Nüchterne Reflexion über eine Demokratur im Jubeljahr 25

 
Ahnungsvoll wendet sich mancher schon jetzt mit Grausen ab von dem, was zum bevorstehenden 25. Jahrestag der Großen Kapitalistischen Oktoberrevolution gesagt oder geschrieben werden wird. Unter ihnen nicht wenige, die im Herbst '89 aktiv dabei waren, im Nouveau Regime aber nicht aufsteigen konnten oder wollten. Wir können schon soufflieren, was von den schwarzrotgoldenen Kanzeln erschallen wird. Es ist die geltende Master-Erzählung über den Umbruch in der finalen DDR, über den Zusammenbruch der SED-Herrschaft und die deutsche Wiedervereinigung.

Mutige Widerstandskämpfer wären sie plötzlich alle, die lange belächelten Brüder und Schwestern in der »Zone«. Mit Kerzen stellten sie sich im Herbst 1989 den im Hinterhalt lauernden Panzern und Kampfgruppen entgegen. Allein mit dem Ruf »Wir sind das Volk« kippten sie das sowjetsozialistische Weltsystem. Leipzig erstrahlt seither als die Heldenstadt, weil am 9. Oktober einmal 70.000 protestierende Menschen um die Innenstadt zogen. Bis heute kämpft die Stadt heldenhaft gegen die dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern oder gegen eine Moschee der wegen ihres versöhnlerischen Geistes hochgefährlichen Ahmadiyya-Muslime. »Freimütigkeit ist hier nicht zu Hause«

Selbstverständlich konnte die Zeitenwende nur von Sachsen ausgehen. Kein anderer Menschenschlag nördlich der Alpen ist mehr von revolutionärem Geist durchdrungen. Georg Friedrich Rebmann, einer der ersten Reisejournalisten, schrieb schon 1795: »Freimütigkeit ist hier nicht zu Hause, und bezüglich der politischen und religiösen Denkungsart steht der Sachse hinter seinen Nachbarn wenigstens um ein halbes Jahrhundert zurück.« In keinem anderen Reichsgau hatte die NSDAP anteilig so viele Mitglieder wie in Sachsen. Und mit der Ära des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht ausLeip-zig erwarb sich der Berliner Stadtteil Hohenschön-hausen den Beinamen »Sachsenhausen« wegen der vielen zugereisten Bonzen.

Am 19. Dezember 1989 huldigten denn auch etwa 20.000 Dresdner und angereiste Fans än der Ruine der Frauenkirche dem neuen Propheten und küssten die Füße von Kanzler Helmut Kohl. Da lag die Dresdner Künstlerdemo auf dem Theaterplatz erst einen Monat zurück, wie zuvor am 4. November in Berlin der emanzipatorische Höhepunkt des Aufbruchs 1989. Bei den gefestigten Festrednern dieses Herbstes 2014 dürfte das kaum noch Erwähnung finden. Bis zur Unerträglichkeit wird vielmehr ein Begriff strapaziert werden, um den sich alle Demagogie rankt: Freiheit! Und Demokratie. Und Bürgerrechte. Und Grundgesetz. Nur danach stand den Ossis der Sinn! Vielleicht noch nach »Sozialer Marktwirtschaft«, aber diesen Begriff wagt ja nur noch die gleichnamige von den Metallarbeitgebern finanzierte Initiative unverfroren zu benutzen.

Voraussichtlich wird niemand mehr erwähnen, dass eben jene vermeintlichen Idole der DDR-Bürgerrechtsbewegung zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 schon vergessen waren. Das Bündnis 90 wäre deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, hätte sie damals gegolten. Was folgte, war der »Sommer der Begierde«, wie Volker Braun im Gedicht »Das Eigentum« schrieb. Selbstverständlich und ausschließlich der Begierde nach Freiheit und Demokratie. Wer wäre damals auf die Idee gekommen, dass alle Centrum-Warenhäuser endlich zu Kaufhäusern des Westens aufblühen sollten?! Begrüßungsgeld forever! Und gingen ein in das erhoffte Paradies und lebten fortan glücklich und frei. Oder?

Wer erzieht noch Demokraten?

25 Jahre nach den Montagsdemonstrationen trifft man tatsächlich immer noch ein paar Leute, denen die Karikaturen »Meine erste Banane« aus dem Jahr der Währungsunion wehtun. Dann fallen sarkastische Sätze wie: »Mit Reisefreiheit, Bananen, dichten Dächern und einem beschleunigten Auto hätte es nie eine Revolte gegen die SED-Herrschaft gegeben!« Die wenigen, die noch reflektieren, erkennen den »Menschen als gemeine Marmelade« wieder, wie Sartre zynisch meinte. Der Mythos vom freiheitsliebenden Ossi, gar vom empathiegeladenen, solidarischen Kollegen und Hausgemeinschafts-Nachbarn taugt nur noch für Kabarett und DDR-Museum. Wer sich ein bisschen bei Marx und Engels auskennt, konnte ahnen, dass solche Sentimentalitäten nicht lange halten und bald reinen Geldverhältnissen unterworfen werden würden.

Mit 25 Jahren Erfahrung Freiheitlich-Demokratischer Grundordnung in den Knochen neigt man zu weisen Vergleichen mit der postulierten »sozialistischen Menschengemeinschaft« der DDR. Denn der Sozialismus ist auch an dem Widerspruch zwischen Diktatur und dem Bild vom an sich guten Menschen gescheitert. Es galt, diesen idealistischen, altruistischen, verantwortungsbewussten Typen erst zu erziehen. Die Ideologen der Partei-und Staatsführung meinten zu wissen, was für den Menschen gut ist.

Genau solche Typen aber brauchte auch die Demokratie! Man wird nicht als Demokrat mit ausgeprägtem Gemeinsinn geboren. Einen Erziehungs- und Besserungsanspruch erhebt aber außer den Landeszentralen für Politische Bildung niemand mehr. Und dann wird an der Dresdner Uni auch noch der Sonderforschungsbereich »Transzendenz und Gemeinsinn« aufgelöst, der danach fragte, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält! Schon in den Schulen wird demokratische Bildung unmerklich vom allgegenwärtigen, ja geradezu totalitären Einfluss des ökonomischen Systems überlagert. Das bedarf im Gegensatz zum politischen System keinerlei Erziehung, weil es an die niedersten menschlichen Instinkte appelliert. Deshalb ist es ja auch so effizient, zumindest für die, die im gnadenlosen Wettbewerb nicht auf der Strecke bleiben.

Nach 25 Jahren erscheint diese Demokratie wie ein zementierter Koloss, der aber auf brüchigen hölzernen Stützen ruht. Zynisch formuliert: Die Demokratie ist sci etabliert, dass sie inzwischen sogar auf ihre Wähler verzichten kann. Bei Plebisziten, Bürgerhaushalten oder Planfeststellungsverfahren ist die Beteiligung noch dürftiger als bei Wahlen. Es sind meist nur die üblichen Verdächtigen, die sich aktiv engagieren. Menschen wollen meckern, nicht unbedingt mitreden.

Der Sachse und sein Blick nach oben

Die vermeintliche sächsische Glanzzeit, die 1990er Jahre der Ära von »König« Kurt Biedenkopf, haben zur Verankerung eines demokratischen Bewusstseins kaum beigetragen. Wer es nötig hatte, konnte wieder seinen Sachsenstolz pflegen, aber mit Emanzipation zu mündigen Bürgern hatte das wenig zu tun. Man hatte es in der DDR nicht gelernt, wozu brauchte man es jetzt? Es gab mit der CDU eine neue Einheitspartei, und es gab einen starken Mann, der sagte, wo es langgeht. Die ironische Redensart aus der DDR, »die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben«, sitzt tiefer, als sich mancher eingestehen will. Biedenkopf bediente diese autoritären Erwartungen seiner Untertanen so geschickt, dass die Sachsen auch noch stolz darauf waren.

Der Landesvater, der 1990 noch in seinem Buch »Zeitsignale« über demokratische Tugenden und sogar über das Regieren mit wechselnden Mehrheiten fabulierte, sorgte noch in anderer Hinsicht für Kontinuität. Bis in die entlegensten Gemeinden, bis in Verbände und Vereine hinein sorgte er für CDU-Durchgriff und Dominanz. Wer es nicht glaubt, besuche einen Unions-Event und staune, wen er dort alles trifft. Diese hegemonialen Strukturen, neben denen sogar die PDS als SED-Nachfolgepartei schwer wieder Fuß fassen konnte, wurmen bis heute den langjährigen Partei- und Fraktionsvorsitzenden Peter Porsch. Wie hatte Walter Ulbricht bei seiner Rückkehr aus der Sowjetunion 1945 gesagt? »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben«, zitiert ihn Wolfgang Leonhard.

Nach wie vor kommt es sehr darauf an, das richtige Parteibuch zu besitzen. »Sächsische Demokratie« ist mittlerweile eine Marke geworden, und Opportunismus zählt zu ihren Kennzeichen. Ebenso wie ein dumpfer Konservatismus in dem nur zur Zeit der Industrialisierung einmal roten Sachsen, der stets zu weit aufgerissenen Augen nach links und leichtem Augenzwinkern nach rechts führte. Die hier besonders rigide angewendete Extremismusklausel illustriert es.

Als Erfolgsautor Lutz Hübner sein jüngstes Stück »Ein Exempel. Mutmaßungen über die sächsische Demokratie« für das Dresdner Staatsschauspiel schrieb, hatte er allerdings mehr die dritte Gewalt, die Judikative im Blick, die doch über allem Partei-enfilz stehen sollte. Wie sich ein Bürger A. im Recht fühlt, wenn er gegen Nazis demonstriert oder auch nur bei Auseinandersetzungen vermittelt und dennoch wie Josef K. in Kafkas »Prozess« in die Mühlen der Gerichtsbarkeit gerät. Nicht nur ein sächsisches oder ostdeutsches Problem des Versammlungsrechts. Aber zum Ruf der sächsischen Justiz hat ihr auffälliger Verfolgungseifer ebenso beigetragen wie das Vorgehen in der sogenannten »Sachsensumpf«-Korruptionsaffäre. Gnadenlos belangt wurden die Verfassungsschützer, die dem CDU-Auftrag zur Beobachtung der organisierten Kriminalität allzu eifrig nachgingen, später auch Zeuginnen und Journalisten. Pikanterweise waren auch hohe Justizbeamte und Amtsträger in Verdacht geraten. Auch hier ähnelt die neue Zeit der alten: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Solches Vorgehen hebt nicht gerade das Vertrauen in den Rechtsstaat.

Schöne neue Welt der Konformisten

Mittlerweile haben wir also unsere schöne neue Demokratie so weit entwickelt, dass nicht einmal mehr jeder Zweite zumindest sein Wahlrecht wahrnehmen will. Die Regierenden interpretieren diese Verweigerung gern als stille Zustimmung zu den prächtigen Verhältnissen. Es sind aber nachweislich gerade diejenigen, die einer Interessenvertretung am dringendsten bedürfen, die vor den Verhältnissen kapituliert haben und sich abwenden. Zu ihren Erfahrungen gehört das Abprallen an einer versteinerten Verwaltung, an einer durchritualisierten Schubladengesellschaft, die Geringschätzung des politischen Personals. Unverändert fühlen sich viele in dieser Gesellschaft wie Objekte, nicht wie handelnde Subjekte.

An der zunehmenden Entpolitisierung sind aber nicht nur die gern beschimpften Politiker schuld.Dieses Personal ist auch nur ein Spiegelbild der Gesellschaft. Woher sollen die Typen, die kernigen Charaktere denn noch kommen, die wir als die Stars des Polittheaters erwarten? Es gehört zu den Paradoxien der ach so freien Ordnung, dass sie statt ausgeprägter Individuen immer mehr verwechselbare Normtypen hervorbringt. Wieder lohnt es sich, in diesen Wochen ins Schauspiel zu gehen und die Verstückung von Huxleys »Schöne neue Welt« anzuschauen. Wir sind schon mittendrin in dieser Vision, Konformismus heißt das oberste Gesetz. Sage niemand, der Anpassungsdruck sei geringer als zu DDR-Zeiten! Nur die Ängste haben gewechselt.So stehen sie wie im Flaschenregal verwechselbar nebeneinander, diese rundgelutschten Typen, erkennbar am ehesten noch durch ihre Auto- oder Klamottenmarke. Sogar ein Besuch in der Fürstenschule St. Afra offenbart, wie stromlinienförmig die künftige Elite der Nation ist. Die Mitte ist Kult, mit dem Mainstream gewinnt man Wahlen. So kommt es zu Kuschelwahlkämpfen, zu sogenannten Duellen der Spitzenkandidaten, nach denen der CDU-Fraktionschef schmeichelt: »Für einen Linken war er viel zu sympathisch!«.

So kommt es aber auch zu den Schockerfolgen der AfD. Die Leute mögen starke Sprüche; die das Grummeln und die Feindbilder unter den glücklichen Sachsen bedienen. So wie den Krimi dreimal täglich, weil da noch das pralle Leben aufschimmert. Schon trauert man in der Union den kantigen Typen der Neunziger nach, die das gesunde Volksempfinden bedienten. Die Aufklärung muss angesichts der Blüte von Chauvinismus, Rassismus und anderer Irrationalitäten ohnehin spätestens jetzt als gescheitert gelten. Und sinnstiftende Kräfte, gar positiv charismatische Persönlichkeiten sind nicht in Sicht. Wenn der Fußball die letzte Massenreligion ist, avanciert der Nationaltrainer zum Guru.

Feiern wir also brav die Freiheit, die wir gar nicht nutzen und brauchen! Stopfen wir uns zu mit all den Drogen, nach denen wir 1989 gelechzt haben: Shopping, Wellness, Malediven, Fernsehen, Internet, kurz: das Ersatzleben. Staat und Gemeinschaft sind etwas für das Häuflein, das es noch immer nicht lassen kann. In dieser gehobenen Langeweile ist dem Ossi von einst sogar sein unbezweifelbarer Hauptvorzug abhandengekommen: der Witz! Den könnten wir gerade jetzt gut brauchen. Ist doch vor vier Wochen in Sachsen erst die Chance auf einen Führungswechsel verpasst worden, der auch zur Demokratiehygiene, zur dynamischen Erneuerung gehört. Aber CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer fand es bei den Koalitionssondierungen schon ganz großartig für die sächsische Demokratie, »dass unterschiedliche Parteien miteinander reden«.

Michael Bartsch