Karl Nolle, MdL

Welt am Sonntag, 03.10.2014

Dichter Nebel über dem Sachsensumpf

 
Politik und Justiz plagen sich seit sieben Jahren mit einer Korruptionsaffäre, die plötzlich keine mehr sein soll

Am 5. Juni 2007 hielt Sachsens Innenminister Albrecht Buttolo im Dresdner Landtag die Rede seines Lebens. Der Christdemokrat beschwor die Abgeordneten, in schwerer Stunde zusammenzustehen. Was er berichtet, erinnerte an Staatsnotstand. Buttolo erklärte, der organisierten Kriminalität (OK) sei es gelungen, in Sachsen ein perfides Netzwerk zu spinnen, das das Gemeinwesen bedrohe.

Alle, die sich jetzt am Kampf gegen die OK beteiligen, werden Rufmordkampagnen ausgesetzt werden“, prophezeite er düster. Ziel solcher Methoden sei es, „unseren guten Ruf zu zerstören“. Wenn der organisierten Kriminalität dies gelänge, so der Politiker, könne „sie den Kampf gewinnen“.

Buttolos dramatischer Weckruf ist als „Mafiarede“ in die Annalen des Freistaates eingegangen. Er gilt als Geburtsstunde der Wortschöpfung „Sachsensumpf“, die im kollektiven Gedächtnis geblieben ist.
Das legendäre Feuchtgebiet beschäftigt bis heute Justiz und Politik in Sachsen. Doch auch nach sieben Jahren Sumpf-Forschung hat sich der Nebel nicht verzogen. Das zeigt der Abschlussbericht, den der zweite Untersuchungsausschuss des sächsischen Parlaments jüngst vorlegte. Was genau die Konsistenz des Sachsensumpfes ausmacht, konnte das Gremium selbst nach der Befragung von 52 Zeugen nicht klären.

Unstrittig ist nur der Ausgangspunkt der Affäre. Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) hatte jahrelang Informationen über mafiöse Strukturen in Sachsen gesammelt. Das Material füllt 100 Aktenordner mit 15.600 Seiten. Es enthält Hinweise zu diversen Fallkomplexen, die mit Namen wie „Rocker“ oder „italienische Mafia“ versehen sind. In den Brennpunkt der Debatte geriet vor allem die Datensammlung „Abseits III“, die mit dem ehemaligen Leipziger Bordell „Jas min“ verbunden ist. Das „Bordell der Mädchen“, in dem Jugendliche im Alter zwischen 13 und 19 Jahren teils zur Prostitution gezwungen wurden, war zwar schon 1993 ausgehoben worden. Doch die Freier ermittelte man nie. Das war wohl kein Zufall. Denn in dem Etablissement sollen ranghohe Angehörige der sächsischen Justiz verkehrt sein, darunter jener Richter, der den „Jasmin“-Zuhälter zu einer auffallend milden Freiheitsstrafe verurteilte.

Von den brisanten Akten der Verfassungsschützer wusste schon Thomas de Maizière (CDU), der von 2002 bis 2005 Innenminister in Sachsen war. Doch der heutige Bundesminister verzichtete darauf, das geheime Kontrollgremium des Landtages zu informieren. Das erledigte erst sein Nachfolger Buttolo, der auch alle Parlamentarier einweihte. Kurz darauf jedoch vollzog der Ressortchef eine überraschende Kehrtwende. Nur drei Monate nach seiner Mafiarede erklärte er den Sachsensumpf für ausgetrocknet. Nicht einmal „größere Pfützen“ könne er erkennen, sagte Buttolo.

Hier setzt die Opposition ein. Linke, SPD und Grüne behaupten, die Regierung habe niemals ernsthaft erwogen, die Vorwürfe unvoreingenommen zu prüfen.
Vor allem aber wirft die Opposition der Regierung einen gnadenlosen Umgang mit jenen vor, die man zu Sündenböcken gemacht habe. Dieses Verhalten gegenüber Kritikern ist für die Opposition der wahre Sachsensumpf. Dabei hätten sich die Regierenden willfähriger Staatsanwälte bedient, denen „es eigentlich nur um den Schutz des (Frei-)Staates vor der üblen Nachrede des Sumpfes“ gegangen sei.

Derartige Feststellungen weist die Staatsanwaltschaft Dresden als „Unterstellung“ zurück. Die Behörde sei „von Gesetzes wegen verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten“. Immerhin 100 förmliche Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet.

Gegen mögliche Täter aus dem Bereich der organisierten Kriminalität und mögliche Hintermänner in Justiz und Politik wurden die Verfahren allesamt rasch eingestellt, auch deshalb, weil die Tatvorwürfe verjährt waren.
Mit umso größerer Härte gingen die sächsischen Staatsanwälte gegen jene vor, die das perfide Netzwerk, vor dem Butto-lo gewarnt hatte, für keine Fiktion hielten.

Bemerkenswert ist, dass sich etwa jedes fünfte Ermittlungsverfahren gegen Journalisten richtete. Dabei spielte das sächsische Justizministerium eine merkwürdige Rolle. So schickt es einen missliebigen Pressebericht unmittelbar nach seiner Veröffentlichung an die Strafverfolger und fragte: „Was können wir tun?“ Kritiker sprechen von systematischer Einschüchterung.

Offen ist, wie das Schlüsselverfahren der Affäre ausgehen wird: gegen eine ehemalige Verfassungsschützerin und einen Kriminalkommissar. Beide sind seit November 2010 wegen Verfolgung Unschuldiger angeklagt.

Uwe Müller