Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 16.02.2015

Jakob Augstein: „Es ist ein System der Lüge“ - Demos gegen Armut statt gegen Ausländer, gegen Ungerechtigkeit statt gegen „Islamisierung“.

 
Bei Pegida-Demos bahnt sich fehlgeleitete Energie den falschen Weg zum falschen Ziel, findet Jakob Augstein. In seiner „Dresdner Rede“ fordert er Demos gegen Armut statt gegen Ausländer, gegen Ungerechtigkeit statt gegen „Islamisierung“.

Von Heinrich Löbbers

Als gebürtiger Hamburger mag Jakob Augstein die Lieder von Hans Albers. Er hat auch eine passable Stimme. Und so stimmt er denn, wenn auch ein bisschen zaghaft, ein Liedchen an auf der Bühne des Dresdner Staatsschauspiels. „Beim ersten Mal, da tut’s noch weh, da glaubt man noch, dass man es nie verwinden kann. Doch mit der Zeit, so peu à peu, gewöhnt man sich daran.“

Die Deutschen, sagt Augstein, sie spüren den Schmerz nicht mehr. Sie haben sich gewöhnt an Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit. Und so gehen die Menschen nicht dagegen auf die Straße, sondern gegen die „Islamisierung des Abendlandes“. Spinnen die denn komplett? Oder sind sie fehlgeleitet? Augstein weiß, dass es naiv ist, trotzdem malt er es sich aus: „Wir, die davon nicht erfasst sind, können vielleicht dafür sorgen, dass dieser Zorn die richtige Richtung nimmt. Stellen Sie sich vor, all die Pegida-Gänger und AfD-Wähler würden ihre Energie für etwas Sinnvolles einsetzen.“ Es handele sich nämlich um eine fehlgeleitete Energie, die sich den falschen Weg sucht und das falsche Ziel.

So diagnostiziert der Journalist Augstein in seiner „Dresdner Rede“ das Phänomen Pegida. Der 47-jährige Herausgeber und Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“ ist dafür bekannt, dass er zuspitzt und auch schon mal drastisch wird. So macht er es auch an diesem Sonntagmorgen. Er nutzt ausladende Gesten, aber spricht ruhig, fast zurückhaltend. Doch im entscheidenden Moment scheut er keinen Kraftausdruck: „Eine Schaufel ist eine Schaufel. Und ein Idiot ist ein Idiot.“

Gleich zu Beginn testet Augstein das Publikum im ausverkauften Haus. Wer war schon mal bei einer Pegida-Demo? Immerhin: einige, sehr wenige Hände trauen sich hoch. Und wer schon mal bei einer Gegendemo? Eine ganze Menge. Sieh an, hier sitzt der politisch aktive Teil des Dresdner Bürgertums, stellt Augstein fest. Schließlich sei ja auch der Besuch einer „Dresdner Rede“ schon ein politischer Akt.

Was sich da auf den Dresdner Straßen tut, deutet Augstein als „ein Aufbäumen des Gefühls gegen die Geduld, des Vorurteils gegen die Verantwortung, des Ressentiments gegen die Ratio“. Es ist für ihn die jüngste Erscheinungsform eines politischen Dreischritts: „Erst lesen Millionen die Bücher von Thilo Sarrazin, dann wird die AfD als politische Partei erfolgreich und nun marschiert Pegida.“ Und immer gehe es um Systemverdruss, Systemmisstrauen, Systemverachtung.

Wenn Leute wählen gehen, demonstrieren gehen, sei das ja eigentlich etwas Gutes. „Jetzt müssen sie nur noch das Richtige wählen und für das Richtige demonstrieren.“ Und das wäre? Aus Augsteins Sicht der Kampf gegen die „beinahe skandalösen“ sozialen Probleme. „Wir haben hier zu viel soziale Ungleichheit und zu viel Ungerechtigkeit, nicht zu viel Islam!“ Doch anstatt dagegen aufzustehen, versammelten sich die Leute hinter „diesem idiotischen Slogan“ von der Islamisierung.

Mehr noch als über das Phänomen der „Pegida-Idioten“ kann er sich über die bundesweiten Reaktionen in Medien und Politik empören. Von Verständnis bis strikter Ablehnung war alles dabei. „Das meiste blieb an der Oberfläche“, findet der Chefredakteur, „denn es sollte gar nicht durchdringen zum Kern, wo die Verteilungsfrage, die Gerechtigkeitsfrage liegt.“ Da liegt die Frage nahe: War das Niveau der Analyse etwa absichtlich so niedrig?

Um zum Kern zu kommen, geht es weit zurück: 1773, Boston Tea Party, Bürger kapern englische Schiffe und werfen 342 Ballen Tee über Bord – aus Protest gegen die britische Kolonialpolitik. Ein Akt der Emanzipation. Über 200 Jahre später, während der Finanzkrise, entsteht in der USA wieder eine Tea-Party, doch nun ist es eine konservative, Augstein sagt: reaktionäre, Bewegung gegen Washington, Obama und die Mainstream-Medien. „In der Finanzkrise konnte der Kapitalismus gerettet werden, aber der Preis war sehr hoch: Das Vertrauen in das System wurde nachhaltig erschüttert.“

Beim Schwenk nach Deutschland landet Augstein bei Thilo Sarrazin. Der sorge sich in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ nicht um Gerechtigkeit, sondern um Geld und Gene. „Man kann Sarrazin den Gründer einer reaktionären Renaissance nennen.“ Er habe eine argumentative Versorgungslücke geschlossen, „die sich beim auf das Ressentiment sinnende Kleinbürgertum aufgetan hat. Er hat Gedanken und Argumentationsfiguren den Weg in die Mitte der Gesellschaft geebnet, die sich früher am rechten Rand herumdrückten.“

Kurt Tucholsky hat 1921 über deutsche Gesichter geschrieben, die sich verhärtet hätten. „Schärfer sind die Kinne geworden, verbissener die Lippen, brutaler die Unterkiefer.“ Diese Gesichter gebe es immer noch, sagt Augstein. „Doch das Gesicht, hinter dem sie sich versammeln, ist der lächelnde Herr Lucke von der AfD. Dieser Mann ist mir unheimlich. Er lächelt immerzu, aber hinter diesem Lächeln liegt eine große Wut.“ Es gebe da einen „drohenden deutschen Unterton“. „In der AfD findet Deutschland zurück zum Gedankengut der Deutschnationalen.“

Die Pegida-Demonstranten seien das Fußvolk der AfD. Die könnten bald von Straße verschwunden sein. Aber Augstein ist überzeugt: „Die AfD wird bleiben.“ Es finde nämlich ein Paradigmenwechsel statt. Rechts sein, das sei für viele gar nicht mehr so schlimm. Und die „linksliberale Hegemonie“, wenn es sie denn überhaupt je gegeben habe, nähere sich ihrem Ende – zugunsten eines neuen Nationalismus. Wie Säure setze die Enttabuisierung bestimmter Themen Ressentiments frei. Das Ergebnis: Im beschaulichen Bad Schandau stellten empörte Sachsen am Ortseingang ein Schild auf: „Bitte flüchten Sie weiter, es gibt hier nichts zu wohnen!“

Die Ressentiments arbeitet Augstein im Einzelnen ab. „Unkontrollierte Einwanderung“ gebe es nicht und auch niemanden, der sich ernsthaft dafür einsetze, Es werde nichts verharmlost. „Im Gegenteil: Wir reden immerzu über Probleme der Migration.“ Ebenso wenig existiere ein „Sprechverbot“ in Deutschland. „Manchmal wäre man ja froh, es gäbe eins, zum Beispiel für die Leute von Pegida.“ Stopp! Vorsicht Satire! Wie schnell kursiert in Zeiten von Twitter eine Schlagzeile wie „Augstein fordert Sprechverbot für Pegida“.
 
Deswegen stellt er klar: Das war polemisch. „Jeder soll jeden Unsinn verzapfen.“ Unsinn wie das Gerede von Islamisierung. Eine solche Bedrohung gebe es nicht. „Wobei man auch sagen könnte, dass manche unserer lieben Landsleute so doof sind, dass ihnen ein bisschen Islamisierung nicht schaden würde.“

Wenn nun Stanislaw Tillich ... Kaum fällt der Name, murrt es im Saal. Augstein geht darauf ein. „Ihr“, betont er, denn er kommt nicht aus Sachsen. „Ihr ...“ Er zieht es genüsslich in die Länge. „Ihr geschätzter Ministerpräsident hat gesagt, der Islam gehöre nicht zu Sachsen. Was eigentlich nur bedeuten kann, dass Sachsen nicht zu Deutschland gehört.“ Der Saal feixt fröhlich, Augstein legt nach: „Das Logik-Seminar muss Herr Tillich noch besuchen.“

Dabei gehe es den meisten Pegidisten gar nicht um den Islam, sie seien vielmehr grundsätzlich unzufrieden mit Politik und Medien.

„Die Ausländer sind nur die Sündenböcke.“ Deshalb sei es Unsinn, Ursachen der Proteste in Ausländerfeindlichkeit zu suchen, in kulturellen Eigenarten der Dresdner oder ostdeutschen Minderwertigkeitsgefühlen. „Sie liegen in einem zunehmend ungerechten Wirtschaftssystem. Die Arbeitnehmer wurden im Stich gelassen, und am schlimmsten haben die Gewerkschaften versagt“, so Augstein. Er spricht vom „Kartell der Profiteure“, das sich seine eigene Wirklichkeit schaffe.

„Man hat uns beigebracht, unseren Augen nicht mehr zu trauen, Ungerechtigkeit für Notwendigkeit zu halten und Unsinn für Vernunft. Es ist ein System der Lüge.“

Auch die Konkurrenz nimmt der „Freitag“-Chef dabei ins Visier und zitiert aus der Wochenzeitung „Die Zeit“, „dem schwarz-grünen Parteiblatt aus Hamburg“. Schwarz-Grün, muss man wissen, geht Augstein gehörig auf die Nerven.

Seine Kolumne bei Spiegel-Online heißt schließlich „Im Zweifel links“. Die „Zeit“ jedenfalls habe geschrieben, den Menschen in Deutschland gehe es gemessen an den europäischen Nachbarn gut, „obszön gut“ sogar. Augstein meint, es hätte besser heißen sollen, „den Lesern der ,Zeit’ geht es gut, gemessen an den Lesern des ,Freitag‘“.

Nun aber demonstrierten Schwache, die noch Schwächere suchen. Auch wenn die Straßen-Pegida sich auflöst, die wütenden Bürger bleiben. Und was machen wir mit denen? „Es hilft weder ästhetischer Dünkel, noch Rechthaberei, noch Verständnishuberei“, sagt Augstein. „Denen müssen wir die Augen öffnen, die müssen wir mitnehmen. Wir brauchen schon Demonstrationen, aber nicht gegen die Islamisierung des Abendlandes, sondern gegen seine Prekarisierung. Nicht gegen Ausländer, sondern gegen Armut, nicht gegen Einwanderer, sondern gegen Ungleichheit, schon gar nicht fremde Kulturen, sondern gegen die eigene Kultur der Kälte.“

Schließlich endet die Rede also doch noch versöhnlich: „Ich gebe diese Hoffnung nicht auf.“ – Großer Applaus!