Karl Nolle, MdL
spiegel online, 13:50 Uhr, 19.03.2015
Blockupy-Proteste - Gewalt gegen Gewalt
Eine Kolumne von Jakob Augstein
Aus den Protesten gegen die EZB wurde in Frankfurt ein Aufruhr gegen das System - und viele sind empört. Aber wenn wir die Gewalt der Straße verachten, warum akzeptieren wir dann die Gewalt der Politik?
Rauch über Frankfurt. Vermummte setzen Streifenwagen und Barrikaden in Brand. Steine fliegen auf eine Polizeiwache. Die Europäische Zentralbank eröffnet ihr neues Gebäude. Blockupy demonstriert. Man sei auf Gewalt vorbereitet gewesen, sagte eine Sprecherin der Polizei, aber "mit derartigem Hass und Aggression konnte man nicht rechnen".
Tatsächlich nicht? Wussten die Behörden nicht, dass es einen großen Zorn gibt in Europa? Auf die Banken und ihren Kapitalismus, der sich selbst zu schützen vermag, aber nicht die Menschen. Und hat nicht Victor Hugo vor langer Zeit geschrieben: "Der Zorn facht den Aufruhr an wie der Wind das Feuer"?
In Frankfurt trafen 10.000 Polizisten auf 17.000 Demonstranten. Die Polizei spricht von 150 verletzten Beamten und mehr als 400 festgesetzten Personen. Hat die Polizei als Grund dieser Maßnahmen wieder "Antikapitalismus" auf dem entsprechenden Formblatt eingetragen, wie es im Jahr 2012 geschehen ist, bei den ersten großen Protesten der Blockupy-Bewegung?
Damals blitzte die Wahrheit des Systems auf: Es war der Kapitalismus selbst, zu dessen Schutz sich die Polizei berufen sah. Nicht zum Schutz von Staat, Gesellschaft oder Demokratie. Die Bankenstadt war damals der richtige Ort für den Protest und ist es auch heute.
Verschränkung von Kapitalismus und Demokratie
Vergessen wir nicht: Die Finanzkrise hat die fundamentale Wahrheit enthüllt, dass ein Riss durch das System geht, zwischen oben und unten, zwischen mächtig und ohnmächtig - und dass es überhaupt ein "System" gibt. Eine ungute Verschränkung von Kapitalismus und Demokratie. Eine fatale Verkehrung der Rollen. So dass nicht mehr der Kapitalismus ein Werkzeug ist zur Verteilung von knappen Gütern nach den Regeln und Maßstäben der Demokratie. Sondern die Demokratie dem Akkumulationsprozess des Kapitalismus zu institutionellem Rahmen und moralischer Legitimation verhilft.
Die EZB hielt vor der Zeremonie am Mittwoch nicht einmal mehr eine gespielte Rücksicht auf die Mechanismen der Öffentlichkeit für notwendig: mehr als eine Handvoll Journalisten war nicht zugelassen, als EZB-Chef Mario Draghi sein neues Gebäude offiziell einweihte. Man habe "aus technischen Gründen" nicht mehr Medienvertreter einladen können, hieß es aus der Bank. Wegen der Demonstrationen seien die Sicherheitsmaßnahmen sehr umfangreich, und für inhaltliche Fragen sei ein Festakt ohnehin nicht der geeignete Rahmen. Außerdem werde alles live im Internet übertragen. So lässt sich im modernen Kapitalismus die Öffentlichkeit behandeln.
Die Freiheit als Instrument
Aber gibt es eine legitime politische Gewalt, die nicht vom Staate ausgeht? Erinnern wir uns: 1967 sagte der Student Peter Schneider in Berlin:
"Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, dass wir die unvorstellbarsten Einzelheiten über die amerikanische Politik in Vietnam zitieren können, ohne dass die Phantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber dass wir nur einen Rasen betreten zu brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen."
Einer der Vordenker der Protestbewegung, Herbert Marcuse, hatte schon 1964 geschrieben, dass die "traditionellen Mittel und Wege des Protests" unwirksam geworden seien, weil der moderne Kapitalismus gelernt habe, auch den Protest zu integrieren. Marcuse sagte, wer in der Gesellschaft der "repressiven Toleranz" sein Rechte ausübt - das Recht der Wahl, der freien Rede, der unabhängigen Presse - trage allein dadurch zum Anschein bei, dass es noch demokratische Freiheiten gebe, die in Wirklichkeit jedoch längst ihren Inhalt verloren hätten: "In einem solchen Fall wird die Freiheit zu einem Instrument, die Knechtschaft freizusprechen." Das waren außerordentlich gefährliche Gedanken. Der Terrorismus der Siebzigerjahre dachte sie nach.
Wer hat, bekommt noch mehr
Heute liegt gerade aus linker Sicht in der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank eine gewisse Paradoxie: Draghi will den Kontinent mit mehr als einer Billion Euro fluten. Das Geld wird vor allem die Taschen der Reichen und Vermögenden füllen. Der Dax hat schon die 12.000 Punkte-Marke übersprungen. Wer hat, bekommt noch mehr. Gleichzeitig schützt die Maßnahme jedoch die gemeinsame europäische Währung, und sie gibt den gebeutelten Südländern mehr von jener knappen Ressource, die sie so dringend brauchen: Zeit.
Und unter anderem gegen das Leid in diesen Ländern richtet sich ja der Frankfurter Protest: gegen die schändliche Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, gegen den sozialen Zusammenbruch in Griechenland. Es kann sich niemand mehr Illusionen über die katastrophalen Folgen der Austeritätspolitik für Griechenland machen. Aber Athen ist weit. Was dort geschieht, sehen wir nicht. Aber jetzt sehen wir den Rauch über Frankfurt.
Die Gewalt der Protestierenden wird einhellig verurteilt. Aber die Gewalt des Systems ignorieren wir. Was ist mehr wert: Das Leben eines griechischen Rentners? Oder ein deutscher Streifenwagen?