Karl Nolle, MdL
spiegel online, 15:45 Uhr, 18.06.2015
SPD und Vorratsdatenspeicherung - Fortschritt? Nein, regieren um jeden Preis
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Mit ihrer unbegründeten Begeisterung für die Vorratsdatenspeicherung verrät die SPD-Spitze die Ideale der Partei. Der Basis ist nicht mehr zu vermitteln, warum heute richtig sein soll, was gestern noch falsch war.
Seit 1973 gehört das Liedchen "Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt, bleibt dumm" elementar zur Erziehung in Deutschland. Die beste Voraussetzung für eine skeptische, politische Generation. Was in diesem Lied heimtückisch verschwiegen wird: Fragen hilft nicht immer. Das Fragewort "warum" ist zum Beispiel nicht geeignet, um sich dem digitalen Handeln der SPD zu nähern. Ohnehin hat "Warum, SPD?" längst einen verzweifelten Unterton bekommen und ist mehr Beschwerde als Frage. Denn die SPD hat ihr Warum verloren wie Timm Thaler sein Lachen verkauft hat, und das spürt man nirgendwo deutlicher als im Digitalen.
Aktueller Anlass ist das wichtigste Thema des kommenden Konvents der SPD: die Vorratsdatenspeicherung. Dort kommt es zu einem Showdown, dessen Existenz allein beweist, wie falsch die Führung der SPD die Vorratsdatenspeicherung und den Widerstand dagegen eingeschätzt hat.
Generalsekretärin Fahimi hat sogar ernsthaft die Abstimmung um die Vorratsdatenspeicherung zu einem Thema der Regierungsfähigkeit gemacht. Die ungeheure Unklugheit dieses Schachzugs wird sich noch erweisen. Zum einen, weil dadurch alles andere als ein strahlender Sieg die Regierungsfähigkeit der Regierungspartei SPD beschädigen wird. Zu 58,4% regierungsfähig wäre nicht gerade ein Signal der Stärke. Zum anderen aber, weil die Vorratsdatenspeicherung zu Recht ein mehrfaches Symbol geworden ist.
Die Vorratsdatenspeicherung steht für den absurden Datenhunger der Staaten. Die Ablehnung ist deshalb auch ein Signal, mit der durch Edward Snowden enthüllten Welt der Allesüberwachung nicht einverstanden zu sein.
Noch wichtiger aber ist das Symbol Vorratsdatenspeicherung (VDS) für das uralte Herz der Sozialdemokratie: Die Partei hat sich schließlich gegründet, um den technischen Fortschritt für die Bevölkerung zu instrumentalisieren und nicht gegen sie. Der "Arbeiter" als politische Größe ist überhaupt ein Produkt der Industrialisierung und damit der Technologie.
"Wir brauchen die VDS, weil wir die VDS brauchen"
Die berühmte Gedichtzeile "Alle Räder stehen still / Wenn dein starker Arm es will" stammt von 1863 und wurde zur Gründung des SPD-Vorgängers "Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein" getextet. Deutlicher lässt es sich nicht ausdrücken: Die Technik soll dem Menschen Untertan sein - und nicht umgekehrt. Die Vorratsdatenspeicherung aber steht für die Unterwerfung der gesamten Bevölkerung unter die Technologie, unter die verstörende Datengläubigkeit der Behörden und auch der Unternehmen.
Man kann sicher darüber diskutieren, ob die Vorratsdatenspeicherung diesen Stellenwert überhaupt verdient. Aus meiner Sicht ja, denn es handelt sich um eine rote Linie, ohne jeden Verdacht die Daten aller Bürger zu speichern. Aber unabhängig davon hat die SPD-Führung um VDS-Fan Sigmar Gabriel mit ihrem unbegründeten Basta-Ansatz dieses Symbol überhaupt erst so groß werden lassen. "Regierungsfähigkeit", bitteschön, größere Geschütze waren nicht vorrätig? Okay, dann soll es so sein. Die seit Jahren als Argument vorgetragene Polittautologie "Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung, weil wir die Vorratsdatenspeicherung brauchen" hat die Verstörung der SPD-Basis noch verstärkt. Die Kehrtwende von Heiko Maas vom Privatsphären-Paulus zum Speicher-Saulus ebenso.
Es geht um Fortschritt
Diese Sichtweise - Technik soll für und nicht gegen die Interessen der Bevölkerung verwendet werden - ist heute so aktuell wie vor 150 Jahren. Nur geht die Deutung der Parteispitze ganz offenbar in eine völlig andere Richtung als die der Basis. In elf von sechzehn Landesverbänden liegen Beschlüsse gegen die Vorratsdatenspeicherung vor, Hunderte Anträge gegen die Vorratsdatenspeicherung kommen aus verschiedenen Gliederungen der SPD.
Mit dem bestürzenden, aber aktivierenden Charme, den so nur die Sozialdemokratie hervorzubringen im Stande ist, entstehen sogar künstlerische Werke gegen die Vorratsdatenspeicherung, gewissermaßen in Nachfolge des angesprochen Bundeslieds. Eine innerparteiliche Bewegung dieser Größenordnung zeigt, dass die digitale Sphäre vom Randthema zum entscheidenden Politikbereich geworden ist. Und das ist für das verlorene "Warum" der SPD entscheidend: Es geht um Fortschritt.
Das "Warum" der Konservativen ist schlicht "Regieren". Deshalb ist ein Beharren auf einer angeblichen "Regierungsfähigkeit" auch zutiefst konservativ, weil es sich übersetzen lässt als: "um jeden Preis regieren, egal mit welcher Haltung". Dieses konservative Warum, Regieren als Selbstzweck, kommt nie aus der Mode, es muss nur immer wieder neu verpackt werden. Wir sind die geborenen Regierer, seriös, stabil, sicher. Die Kernbotschaft: Wir nerven nicht mit Neuerungen.
Anschluss an die digitalen Sphären verloren
Die SPD dagegen bemüht sich stets, die Partei des Fortschritts zu sein. Daraus ergäbe sich im Kontrast also die Kernbotschaft: Wir nerven mit Neuerungen. Weil aber natürlich niemand ernsthaft dieses ständige, nörgelige Fortschrittsversprechen aushält, erstarrt es zwischendurch immer wieder zur Pose. Das ist okay, wenn das echte Streben nach gesellschaftlichem wie technischem Fortschritt bei Bedarf reaktiviert werden kann. Jetzt ist Bedarf, und die VDS ist dafür zum Symbol geworden.
Was aber derzeit zu besichtigen ist: Die Spitze der SPD hat in ihrer erstarrten Fortschrittspose den Anschluss an die digitalen Sphären verloren, in und mit denen der Fortschritt maßgeblich stattfindet. Sonst wäre sie nicht derart unbeholfen in die VDS-Falle gelaufen. Justizminister Heiko Maas hätte eventuell eine Brücke bauen können. Aber schlimmer noch als seine Haltungsänderung ist die Selbstverständlichkeit, mit der er jetzt in wohlgesetzten Worten begründet, warum man eigentlich nur für die Vorratsdatenspeicherung sein könne. Nicht das Umfallen, sondern die Argumentation seines Hauses entlarvt: War alles nur gespielt. In einer Partei, in der zumindest die Basis Politik aus Überzeugung erwartet, ist das fatal.
Der SPD mangelt es an vielem, aber gewiss nicht an mehr oder weniger wohlmeinenden Empfehlungen von außen. Trotzdem ist hier meine: Vorratsdatenspeicherung ablehnen als Symbol dafür, dass Technologie gefälligst für das Wohlergehen der Menschen zu funktionieren hat und nicht zur Überwachung. Und warum? Weil SPD.