Karl Nolle, MdL
spiegel online,16:30 Uhr, 17.07.2015
Deutsche Griechenland-Politik - die Regel ersetzt das Richtige
Eine Kolumne von Georg Diez
"Warum ist Deutschland so wütend?" Im Ausland wird Merkels und Schäubles Regelrigorismus mit Schrecken zur Kenntnis genommen. Beim deutschen Europaregiment ersetzt der Gedankennotstand die Idee.
Die Kälte ist zurück, und wahrscheinlich war sie nie weg. Sie war bloß verdeckt von Sommermärchen und Exportweltmeisterei und all den anderen Ablenkungen, mit denen sich die Deutschen ihre eigene Härte schönreden.
Die Kälte ist da, der Ärger, die ziemlich ungezügelte Wut im Gesicht von Wolfgang Schäuble, der, so sehen es die ausländischen Kommentatoren, Griechenland wahlweise bestrafen oder erniedrigen oder gleich in ein deutsches Protektorat verwandeln will.
Die Kälte ist da, die Herrschsucht, der Rachedurst auch in dem einen Satz, der von Thomas Strobl bleiben wird, dem Schwiegersohn von Schäuble und stellvertretenden CDU-Vorsitzenden: Der Grieche hat genug genervt.
Und die Kälte ist da, wenn deutsche Ökonomen über Griechenland reden - einen radikalen Stimmungssturz, so beschrieb der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Jacob Soll in der "New York Times" das Zusammentreffen mit seinen deutschen Kollegen und fragte sich: "Warum ist Deutschland so wütend?"
Ressentiment, so schildert es Soll, ist die Grundlage für den Blick dieser Ökonomen auf Griechenland, und die Opferrolle, in die sich Deutschland in dieser Situation begibt - unser Geld, unser Geld, unser Geld -, sieht er als die "eigentliche Gefahr für Europa".
Im Stil einer Strafaktion wird ein Land gebrochen
Aber das passiert, wenn Kälte Politik wird: Im Stil einer Strafaktion wird ein Land gebrochen, das versucht hat, mit dem demokratischen Auftrag, den seine Regierung hat, in einem bestenfalls halbdemokratischen Raum Verhandlungen zu führen.
Man kann es natürlich auch härter sagen: "Griechenland ist nur ein weiteres Schlachtfeld für den Krieg der Finanzelite gegen die Demokratie", schreibt George Monbiot im "Guardian".
Und ebenfalls im "Guardian" spricht Seumas Milne von einer "Kreuzigung Griechenlands", die das Ende einer Idee bedeutet: "In ihrem Eifer, die Eurozone zu disziplinieren, töten die Eliten des Kontinents ihr europäisches Projekt."
Sind die also alle verrückt, die als Bilanz der vergangenen zwei Wochen von einer neuen Form des Kolonialismus sprechen, vom Finanzdiktat, von einem neuen Versailles? Sind sie es, die ihre Rationalität an der langen Leine der Hysterie spazieren führen?
Oder haben die ihren Bund mit der Vernunft aufgekündigt, die nicht einsehen wollen, dass sie als Geisterfahrer der Weltgeschichte unterwegs sind?
Hat die Wirklichkeit versagt?
Vernunft, grob gesagt, bemisst sich an der Wirklichkeit. Und da ist die Sache recht klar: 2010 betrug die Schuldenquote Griechenlands 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in den kommenden beiden Jahren wird sie, laut IWF, auf unhaltbare 200 Prozent steigen - ein Schuldenschnitt, schon 2010 möglich, wäre 2015 die einzige vernünftige Aktion.
Hat also die Wirklichkeit versagt? An diesem Punkt unterscheidet sich ein Pragmatiker von einem Ideologen. Im Fall von Griechenland kann man sagen: Pragmatisch waren die Vorschläge der als Ideologen verschrienen Syriza-Politiker, ideologisch war all das, was SchäubleMerkelGabrielSteinbrück sagten, also die, deren politisches Mantra "hätte, hätte, Fahrradkette" ist.
Und das ist eben das Merkwürdige an der Kälte, die sich in den vergangenen Wochen in der Politik gezeigt hat: Sie ist keine Kälte des Pragmatismus, sondern eine Kälte der Getriebenheit und der Realitätsverleugnung, eine Kälte der Unvernunft und des Regelrigorismus.
Es wirkt fast manisch, wie die Regierung immer wieder von Regeln redet, wo ihr die Realität zu entgleiten droht. Die Regel ersetzt das Richtige, das Verfahren ersetzt die Lösung, der Gedankennotstand ersetzt die Idee.
Europa ist eine politische Idee, keine ökonomische
Aber das ist eben das Problem einer Politik, die auf Inhalte, Werte, das Richtige verzichtet und gerade in der Europapolitik die Prämissen umgedreht hat: Europa funktioniert gut als politische Idee, aber schlecht als ökonomische. Die Antworten auf diese Krise müssen deshalb politische sein. Es sind aber ökonomische.
Der Geist der Regeln und Regularien frisst sich derweil seinen Weg selbst in die Berliner Nebenrealität und lässt die Akteure noch ferngesteuerter erscheinen als bisher: der #merkelstreichelt-Fauxpas lässt sich im Grunde nur so erklären.
Denn die Hilflosigkeit von Angela Merkel angesichts des Integrationswunderkinds aus dem Libanon war ja echt - und sie war deshalb umso erschütternder: Merkel schilderte dem Mädchen, dass sie zurück muss in Krieg und Not, so ist das nun mal, es können - Achtung: AfD - nicht alle kommen aus Afrika und dem Rest der Welt.
Und wundert sich dann, dass das Mädchen weint. Das ist die Verrücktheit einer Politik, die nur auf den Vollzug und das Funktionieren eingestellt ist.
Die Reaktion darauf in den sozialen Medien war eine Entladung. Das Land hat sich geändert in den vergangenen Wochen.